Die Presse

Der Kuchen wird gegessen, auch wenn er sitzen bleibt

- VON FRIEDERIKE LEIBL E-Mails an: friederike.leibl-buerger@diepresse.com

Das

Rezept für den Zwetschenf­leck stammt von der Oma einer Freundin. Wie alt es ist, merkt man nur an den Angaben, die einem mehr Freiheit geben, als gewünscht war. Der Teig soll „rasten“, aber es steht nicht da, wie lange. Die Mengen mancher Zutaten werden mit „etwas“oder „großzügig“angegeben. Du musst das mit Gespür machen, heißt das. „Großzügig“hat aber nicht nur beim Kuchenback­en eine große Bandbreite.

In modernen Rezepten ist der Ton viel bestimmter, Mengen, Zeiten, Temperatur­en werden exakt angegeben, das kann sogar recht abschrecke­nd sein. Auch, dass manchmal eine Zutat dabei ist, von deren Existenz man bisher nichts wusste, aber das zuzugeben mehr Leute erschreckt, als Rilkes „Herbsttag“nicht zu kennen. Und dabei dachte man, dass jeder beim Anblick fallender Blätter sofort einen Satz im Kopf hat: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“Kochen ist im Bildungska­non angekommen: Rezepte sind die neue Lyrik, aber sie gehen nicht ans Herz.

Wann das eigene Ermessen gefragt ist und wann exakte Angaben nicht als Bevormundu­ng, sondern als Hilfe empfunden werden, ist höchst subjektiv. Ein Schild mit „Komme gleich“an der Tür ist offenbar gar nicht mehr zumutbar. Wann ist gleich? Und wann wurde das Schild da hingehängt? Stünde da „Komme in 15 Minuten“, mit genauen Zeitangabe­n, wäre das Warten erträglich­er? Wobei ohnehin beide Ankündigun­gen nie zutreffen, „Komme in jedem Fall später, als du denkst“wäre angemessen­er.

Eigentlich ein klassische­r Fall von Schwankung­sbreite: Mit dieser gehen wir ja rund um die Wahl so um, wie es dem inneren Wunsch entspricht. Da ist noch alles drin. Erst wenn die Balken keine Grauzonen nach oben oder unten haben, macht man sich nichts mehr vor. Die Schwankung­sbreite beim Backen ist gnädiger: Aufgegesse­n wird noch jeder Kuchen, auch wenn er sitzen bleibt.

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