Der Schirm macht die Musik
Gleichstellung. Die großen US-Orchester waren noch 1970 fast rein männlich – bis man Wandschirme zwischen Jury und Bewerber stellte.
Wien. Worauf achtet ein Dirigent, wenn sich ein Musiker durch ein Vorspielen für sein Orchester bewirbt? Auf die Töne, die aus dem Instrument kommen, nicht auf Geschlecht oder Hautfarbe des Bewerbers – das würde wohl jeder Kapellmeister mit dem Brustton der Überzeugung von sich behaupten. Und nicht erst heute, sondern schon 1970.
Aber damals lag der Frauenanteil in den fünf wichtigsten Orchestern der USA bei gerade einmal fünf Prozent (die Wiener Philharmoniker nahmen überhaupt erst 1997 das erste weibliche Mitglied auf ). Der Schluss, der sich aufdrängte: Frauen sind einfach die schlechteren Musiker. Bei dieser Überzeugung blieb es, bis das Boston Symphony Orchestra damit begann, zwischen die Jury und die Bewerber einen Wandschirm zu stellen. Die meisten anderen Orchester folgten mit Schirmen oder Vorhängen im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre.
Und siehe da: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau eine Runde weiter kam, stieg um 50 Prozent. Im Laufe der Zeit haben die- se Orchester immer mehr Frauen aufgenommen. Heute sind schon immerhin 35 Prozent ihrer Mitglieder weiblich.
„Ein schlichter Vorhang verdoppelte den Talentpool, ermöglichte großartige Musik und veränderte das Aussehen der Orchester“, resümiert Iris Bohnet. In ihrem Buch „What works“zeigt die Schweizer Verhaltensökonomin, die in Harvard forscht, wie verzerrte Wahrnehmungen unsere Entscheidungen beeinflussen. Dabei stützt sich die 51-Jährige auf Erkenntnisse, die sich aus Experimenten und Studien ergeben haben. Sie empfiehlt Unternehmen neue Regeln für ihr Personalmanagement. Es gehe darum, wie man Stellenanzeigen schaltet, Bewerber bewertet, Vorstellungsgespräche führt und festlegt, wer eine Gehaltserhöhung bekommt. Dieses „Design“soll dafür sorgen, dass wirklich die Besten gefördert werden. Übrigens: Es gibt auch aktuelle Experimente mit Musikern, die für ihr Orchester Bewerber auswählen. Und es zeigt sich: Ohne den Vorhang hätte sich wenig geändert. (gau)