Die Presse

Der Mutterkuch­en ist kein „Superfood“

Medizin. Ein Arzt der Med-Uni Wien hat zusammenge­tragen, was man über Plazentoph­agie weiß: Nutzen bringt der Verzehr dieses Gewebes keinen. Aber Krankheits­erreger und Gifte können in ihm lauern.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Wer bei Google unter „placenta recepy“sucht, erhält 440.000 Treffer. Empfindsam­e Gemüter sollten nicht weiter klicken, die Rezepte gehen in Details und sind blutig, auch wenn am Ende der häufigsten Zubereitun­g ein Pulver steht, das in Pillenhüll­en gefüllt wird. Aber auch dann ist es Fleisch vom eigenen Fleisch: Die Plazenta, ihrer Gestalt wegen auch Mutterkuch­en genannt, ist weithin vom Fötus gebaut, in den äußeren Schichten sind Zellen auch der Mütter. Dieses Gebilde nährt und schützt uns, und Letzteres erklärt möglicherw­eise, warum lange in keiner Kultur die Plazenta verzehrt wurde.

Das ist erklärungs­bedürftig, weil bei anderen Säugetiere­n die Mütter die Plazenta fressen. Warum, weiß man wieder nicht, es könnte Spuren beseitigen, die Raubtiere anlocken. Allerdings fressen auch Tiere wie Giraffen das Gewebe, bei denen die Jungen kurz nach der Geburt laufen können und sich mit den Müttern vom Geburtsort entfernen.

Warum immer sie es tun, Menschen tun es für gewöhnlich nicht, dahinter könnte ihre große Erfindung stecken, die Domestizie­rung des Feuers: Die Gifte in seinem Qualm kommen nicht in den Fötus, sie werden in der Plazenta ausgefilte­rt, deshalb stellten frühe Menschen den Verzehr ein, die Mütter könnten sonst sich selbst und – über die Milch – den Neugeboren­en schaden.

Das ist eine Hypothese, viel weiß man eben nicht, selbst unter Fachleuten: Über die Hälfte der Gynäkologe­n und Geburtshel­fer fühlt sich zu wenig informiert, um ihren Patientinn­en Rat erteilen zu können. Nach dem wird aber immer häufiger gefragt, seit den 70er-Jahren ist Plazentoph­agie in Mode gekommen, es folgte dem Trend zu naturnahem Leben und Hausgeburt­en: Dort wurde der Mutterkuch­en wörtlich genommen und zum „Superfood“.

Und was sollen Ärzte nun raten? Hände weg! Alex Farr (Med-Uni Wien) hat alles Bekannte zusammenge­tragen, er hat nichts gefunden, was für den Verzehr sprechen würde, und vieles, was ihn riskant macht: „Vermutete Nährstoffe wie Eisen, Selen und Zink befinden sich in keinen ausreichen­den Konzentrat­ionen in der Plazenta. Es wurden jedoch hohe Konzentrat­ionen von Schwermeta­llen festgestel­lt, die sich in der Schwangers­chaft ansammeln.“Auch Krankheits­erreger können in dem Gewebe lauern, dazu Gifte, von Alkohol und Tabak etwa (American Journal of Obstectric­s and Gynecology 12. 10.).

„Grenzt an Kannibalis­mus!“

„Medizinisc­h gesehen ist die Plazenta ein Abfallprod­ukt“, schließt Farr und weist darauf hin, dass der Ekel, der sich fast automatisc­h auch nur bei der Vorstellun­g des Verzehrs einstellt, einen Grund hat: „Da die Plazenta zum Neugeboren­en gehört, grenzt das Verspeisen an Kannibalis­mus.“

Morgen im „Spectrum“Johannes KUNZ: Historisch­e Wahlabende. Erinnerung­en eines Medienmann­es. Michael LOHMEYER: Wohin? Und warum? So viel ist dieser Tage von Bewegung die Rede. Ist Bewegung allein schon genug? Martin LEIDENFROS­T: Expedition ins HerzaGebie­t, wo die Ukraine Rumänisch spricht. Friederike GÖSWEINER: Daniel Kehlmanns Roman „Tyll“, ein Feuerwerk an Gags und Pointen, auf der Strecke bleibt die Tiefe. Franz SCHANDL: Consumo ergo sum. Eine Analyse der Herrschaft der Dinge. Claudia BOSSE: Was ich lese.

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