Bürger sollen Forschung mitgestalten
Künftig könnten bei der Bewilligung EU-geförderter Forschung die Wünsche der Bevölkerung eine Rolle spielen. Die Vorarbeiten dazu sind gemacht, erste Visionen gesammelt.
Eine überalterte Gesellschaft gilt zum einen als Herausforderung für die Jungen, weil sie für den Unterhalt der Senioren aufzukommen haben. Zum anderen ruft der schnelle Wandel der Arbeitswelt auch bei den Menschen Ängste hervor, die erst vor Kurzem ins Arbeitsleben eingetreten sind. Viele sorgen sich darum, dass ihre Bildung und vor allem ihre Ausbildung nicht für das ganze Leben reicht. Der Anspruch des Life Long Learning, also der lebenslangen Weiterbildung, wird als Überforderung empfunden, vor allem, wenn gleichzeitig eine Familie aufgebaut und versorgt wird. Dann konterkariert der Druck, ständig Neues zu lernen, den Wunsch, nicht nur Sklave der Arbeit zu sein, sondern eine befriedigende Work-Life-Balance zu leben.
Wie beide Ziele unter einen Hut zu bringen sind, sollte Thema zukünftiger Forschung sein. Das wünschen sich jedenfalls Bürger, die seit 2015 für das EU-Projekt CIMULACT befragt wurden. Niklas Gudowsky hat daran für das Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mitgearbeitet. Mehr als 4500 Bürger, Expertinnen, Entscheidungsträger und Interessengruppen wurden an dem intensiven Prozess beteiligt, der das Ziel hat, EU-geförderte Forschung stärker an den gesellschaftlichen Bedürfnissen auszurichten.
Wie soll die Zukunft aussehen?
Dazu wurden in den EU-Mitgliedstaaten, der Schweiz und Norwegen Bürgerworkshops initiiert, in denen je 36 Personen ihre Visionen für eine wünschenswerte Zukunft entwickelten. Darauf folgte ein Zusammentreffen von Experten, einem Bürger aus jedem Land, sowie Vertretern von Wirtschaft und Medien auf EU-Ebene in Mailand. Die Ergebnisse wurden an die Bürger-Workshops zurückgegeben und dort noch einmal diskutiert. 48 vorläufige Forschungsthemen kristallisierten sich heraus, die noch einmal an Bürger und Experten zurückgespielt wurden.
Dazu gehören etwa die Überwindung von Stadt-Land-Grenzen durch neue Transportmittel. Nachhaltige, flexible und innovative Transportlösungen sollen Menschen das Leben in ländlichen Gemeinschaften ermöglichen. So ließen sich auch lokale Ökonomien fördern. Ein weiterer Vorschlag ist die Beteiligung der Konsumenten an der Entwicklung neuer Energiesysteme. Gerade in Österreich gibt es den Wunsch, nicht nur auf große Kraftwerke als Versorger angewiesen zu sein. Österreichern ist es zudem besonders wichtig, dass die bestehende hohe Nahrungsmittelqualität nicht nur für Teile der Bevölkerung erschwinglich, sondern für alle leistbar ist.
In einem weiteren Schritt wurden die Experten befragt, die für die Europäische Kommission das Programm für Forschung und Innovation Horizon 2020 betreuen und die Ausschreibungstexte für die Projekte formulieren. Bereits im ersten Halbjahr 2018 will die EU-Kommission erste Vorschläge für das nachfolgende 9. Forschungsrahmenprogramm vorlegen. Ziel von CIMULACT ist, dass die Bürgervisionen einfließen können. „Deshalb wurden 23 Forschungsthemen definiert, die als realistisch gelten und nicht der normalen Programmlogik der EU entsprechen, die vor allem durch Experten und Lobbyisten be-
In den Jahren 2014 bis 2020 standen im Rahmen der EUForschungsförderung knapp 75 Milliarden Euro für Grundlagenforschung sowie für die Entwicklung moderner Produkte zur Verfügung. Wichtig dabei ist vor allem die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Noch während neue Projekte entwickelt werden, arbeitet die EU-Kommission bereits an der Grundarchitektur für das folgende 9. Forschungsrahmenprogramm, das von 2021 bis 2026 läuft. stimmt wird“, erklärt Gudowsky. „Wir wollen die Wissenschaft zwingen, aus ihrem Elfenbeinturm herauszukommen.“
Gesamtgesellschaftliche, länderübergreifende Probleme wie der gleiche Zugang zu Gesundheitsressourcen werden aufgegriffen, auch wenn sie für Österreich ganz anderes bedeuten als für Griechenland, so Gudowsky. Sie sollten, berücksichtige man die Visionen der Bürger, auch in künftige Forschungsprojekte einfließen.
Die Chance, dass dies gelingt, steigt, weil viele Forschungsprojekte interdisziplinär angelegt sind und die Partizipation der Bevölkerung momentan innerhalb der europäischen Forschungslandschaft eine große Rolle spielt. „Die Visionsworkshops mit Bürgern bieten ein Modell dafür, wie dieser Anspruch so umgesetzt werden kann, dass die Partizipation nicht nur im Beiwagen mitfährt, sondern zur Grundlage von Projekten wird. Das ist neu“, sagt Gudowsky.