Illusion von Lösungskompetenz
ein binäres System zu – Like oder kein Like, ja oder nein, Daumen rauf oder Daumen runter. Nicht anders als zu Neros Zeiten. Wir dürfen uns deshalb nicht wundern, wenn auch die reale, analoge Welt darunter leidet. Wir wissen, dass ein Daumen der Vielschichtigkeit von Gedanken und Gefühlen niemals gerecht werden kann, und machen doch eifrig mit.
Angesichts des schwindenden Weitblicks und der entrückenden Peripherie erscheint es nur logisch, dass es im Sog der Beschleunigung nur wenige wagen, sich zu besinnen und innezuhalten – wird doch ständig die Sorge geschürt, etwas Wesentliches zu versäumen, wenn der Blick den Ausflug in die Randzonen der Bilder wagt. Oder sich gar nach innen wendet. Was für die Augen Schwerarbeit ist, macht auch den anderen Sinnen zu schaffen. Dies ist besonders gut in jenen Tagen und Wochen zu beobachten, die einer Wahl vorangehen. Es werden Events organisiert, Aktualitäten inszeniert und Nebelgranaten gezündet. Vor allem ein Eindruck soll sich manifestieren: Es gibt Bewegung!
In „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“schreibt Immanuel Kant der Bewegung zwei ausschlaggebende Momente zu: Richtung und Geschwindigkeit. Und Ruhe ist für den Philosophen „nicht Mangel an Bewegung, sondern beharrliche Gegenwart an demselben Orte; beharrlich aber ist das, was eine Zeit hindurch existiert“. Freilich, in seinen Betrachtungen bezieht sich Kant auf die Physik, nicht auf gesellschaftliche Entwicklungen. Die aber sind genau von diesen Parametern bestimmt, die Kant vor 240 Jahren niedergeschrieben hat: Richtung, Geschwindigkeit, Beharren, Ruhe. Das knappe Vierteljahrtausend scheint lediglich die Geschwindigkeit gut überstanden zu haben. Denn beinahe zehn Generationen nach Kant dreht sich alles darum, wie schnell eine Meldung „viral“wird, im Netz „abhebt“und von Likes und Followern in lichte Höhen der Zugriffszahlen getragen wird. Es scheint keine Zeit mehr zu bleiben, sich genauer damit zu befassen, worum es geht; und wer so ein antiquiertes Vokabel wie „Beharren“in den Mund nimmt, ist sowieso schon unten durch. Ach, und dann die Ruhe!
Vor ein paar Jahrzehnten noch, gewissermaßen mitten in den demokratiepolitischen Morgenstunden dieses Landes, wurde doch allen Ernstes in einem Wiener Wahlkampf der Slogan „Keine unnötigen Fragen stellen“plakatiert. Unter Häme verschwanden die Plakate, und die Fragen wurden dann doch gestellt. Und heute? Heute braucht es keine Plakate mehr, kritische Fragen sind keine Sache mehr für breite Öffentlichkeiten, vor allem dann nicht, wenn es um komplexe Themen geht. Kritische Fragen sind nur dann cool, wenn sie schnell und einfach zu beantworten sind. Sonst wird halt weggezappt, den Likes sei Dank.
Deshalb werden viele Debatten, nicht selten bevor sie sich ausbreiten können, zugedeckt mit „Bewegung“oder mit dem Anschein, eine solche in Gang bringen zu wollen. Über Inhalte wird am besten gar nicht geredet. Viel zu kompliziert! Oberhand haben die, denen es am schnellsten gelingt, einen Tweet abzusondern, dessen technische Vorgaben ohnehin verhindern, dass jemand in die Tiefe geht. Nur im Ausnahmefall schaffen es Inhalte aus sich heraus, in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu gelangen, vor allem wenn damit Grenzen überschritten werden. Was gemeinhin als „öffentliche Meinung“beschrieben wird, wird gnadenlos konsequent an der Oberfläche gehalten, Meinungsumfragen werden zu den heimlichen Drahtziehern der Politik.
Schauen wir uns einmal an, weshalb Bewegung erst dann Sinn hat, wenn Richtung und Beharren an Bord sind. Eine Bewegung ohne Richtung beschert leere Kilometer. Einer Richtung ohne Punkte, auf denen zu beharren ist, fehlt die Ernsthaftigkeit, weil sie zu schwammig und zu allgemeingültig daherkommt. Sie ist ebenso unsinnig wie ein Beharren um seiner selbst willen. Ruhe wiederum kann auch das beharrliche In-sichGehen sein; beharrlich im Sinne von tiefgründig und nachhaltig. Es ist diese Ruhe, die Entscheidungen reifen lässt und die heute viel zu wenig Präsenz zeigt.
QAuch wenn die Bewegung den Hauch der Dynamik verleiht, das Macher-Image beflügelt und die Illusion der Lösungskompetenz zeichnet: Bewegung um ihrer selbst willen sollten wir dort belassen, wo sie hingehört – in den Freizeitsport. Jetzt brauchen wir nur noch Phasen (etwa Zeiten, die manche Wahl„Kämpfe“nennen), in denen über all das – Bewegung und Beschleunigung, Richtung und Beharren, Ruhe – auch geredet wird. In denen kritische Fragen durchdringen und Tiefgang möglich wird, ermöglicht wird. Wahrscheinlich wird auch das noch zu wenig sein. Denn wie sozial die „sozialen Medien“tatsächlich sind, liegt auch daran, wie sozial wir sie gestalten.
Werte Politikerin, werter Politiker, zu früh aufgeatmet: Die wahlwerbenden Gruppierungen stehen nicht weniger in der Verantwortung – ganz im Gegenteil. Das soziale Klima eines Gemeinwesens wird gestaltet vor allem von denen, die sich berufen fühlen, es hauptberuflich zu prägen. Die einen machen das zu wenig, die anderen gar nicht und manche in der falschen Weise. Nicht die Berufspolitik ist das Problem, sondern der Umgang damit.
Das liegt auch an uns selbst. Wir, die Stimmberechtigten, lassen eine Debattenkultur zu oder nicht; wir haben es in der Hand, zu klicken oder nicht zu klicken, zu liken oder nicht zu liken. Unsere Meinung kundzutun, wenn das Aufeinanderzugehen zu selten praktiziert wird und sich als ein bloßes Aneinandervorbeigehen herausstellt, möglicherweise zu einem brutalen Vorbeischrammen ausgestaltet wird. Uns zu Wort zu melden, wenn wir mehr Interaktion und mehr Entwickeln für notwendig erachten.
Denn wichtiger als Bewegung erscheint wohl der Wille und die Fähigkeit zu entwickeln. Lösungen zum Beispiel oder Zugänge zu gesellschaftlichen Gegebenheiten, die anstehen, gestaltet zu werden; manchmal danach schreien und nur zu oft mit heißer Kehle ungehört verstummen. Wir befinden uns mitten in der Politik, am Wochenende einer Nationalratswahl. Noch wird vor allem eines in den Mittelpunkt gestellt: die Bewegung! Beginnen wir, lauter zu fragen: Wohin und warum?