Das Ende der Arbeit
„Die Liebe zu einem ist eine Barbarei: denn sie wird auf Unkosten aller übrigen ausgeübt.“Ich stellte fest, dass alles, was ich über die Arbeit zu wissen glaubte, eng mit der Person meines Vaters zusammenhing. Er war für mich die Verkörperung des Animal laborans, des arbeitenden Tieres, das sich tagtäglich frühmorgens dem Schlaf entreißt und sich – mit scheinbar gleichmütiger Miene – den immer gleichen Prozessen hingibt. Das Unbehagen, das mich aufgrund seiner Verfasstheit befiel, kann ich erst heute in Worte fassen. Es hatte nichts mit der Angst vor den monotonen Anstrengungen der Arbeit oder mit pubertärer Antriebslosigkeit zu tun. Vielmehr beunruhigte mich der verschwenderische Umgang mit der Zeit, den die Arbeitnehmer, allen voran mein Vater, zu pflegen schienen: Sie gingen alle zur Arbeit, als ob sie ewig lebten. Untertags ließen sie ihre Zeit von den Arbeitgebern verbrauchen, um sie abends erschöpft vor dem Fernseher zu vergeuden.
Nichts zu arbeiten gilt als der größte Frevel; die Ausgestoßenen sind heute die Langzeitarbeitslosen, denen keinerlei Legitimation widerfährt, die nur auf das moralische Almosen einer Mindestsicherung hoffen können. Doch nicht nur die billige, ausländische Arbeitskraft bedroht die nationale Lohnarbeit, sondern auch die unmenschliche Konkurrenz: die Maschine. Das arbeitende Tier will nicht sehen, dass der Traum des Aristoteles in Erfüllung gegangen ist. „Unsere Maschinen verrichten feurigen Atems, mit stählernen, unermüdlichen Gliedern, mit wunderbarer, unerschöpflicher Zeugungskraft, gelehrig und von selbst ihre heilige Arbeit“, so Lafargue. Und weiter: Die Menschen „begreifen noch nicht, dass die Maschine der Erlöser der Menschheit ist, der Gott, der ihnen Muße und Freiheit bringen wird“. Stattdessen scheint die Furcht vor der Untätigkeit, der eigenen Ineffizienz, die Menschen voranzutreiben, und so verweigern sie sich sogar der letzten Bastion des absichtlichen Nichtstuns: dem Genuss.
Der Sieg des neoliberalen Animal laborans, des stetig tätigen Lebens, scheint sich in der einzig wirklich effizienten Knechtschaft verwirklicht zu haben: der Selbstausbeutung, dem rastlosen Tätigsein um des Tätigseins willen. Sie endet im Tod, der einzigen Grenze allen sterblichen Konsums und der Dystopie des grenzenlosen Wachstums. Hier, im Auge dieser größten Gefahr, wächst auch das Rettende: Mit unserem Bekenntnis zur Faulheit beginnt nicht nur unsere Revolte gegen die Arbeit, sondern auch gegen das alles beherrschende Sinn- und Zwecksupremat. Die Verweigerung, tätig zu sein um des Tätigseins willen, ist der ultimative Widerstand gegen ein System des endlosen Ver- und Missbrauchens, das zwangsläufig ruhelos ist.
Nietzsche hielt treffend fest, dass eine Gesellschaft, die ihre Ruhe verliert, in der Barbarei endet. Ich befürchte, dass das Recht auf Arbeit zukünftig ein Gebot zur Faulheit werden muss, wenn wir der unbarmherzigen Barbarei entkommen wollen. Wir werden uns den Menschen als etwas anderes denn als arbeitendes Tier vorstellen müssen. Zu Beginn des Science-Fiction-Romans „Snow Crash“von Neal Stephenson (1992) brettert der Programmierer Hiro über eine der vielen privatisierten Landstraßen der Vereinigten Staaten, oder was von diesem Land noch übrig ist. Eine Verfolgungsjagd? Ja und nein. Sein Gegner ist die Zeit. Hiro arbeitet als „Auslieferator“für die Pizzamafia. Damit ist er dazu verpflichtet, jede Pizza innerhalb von 30 Minuten nach Bestellaufgabe zum Kunden zu bringen, andernfalls kann dieser die Pizza umsonst haben, den Fahrer erschießen, sein Auto beschlagnahmen und
vergaben im Rahmen des diesjährigen Philosophicums 20 Stipendien, die sich vorrangig an Studierende der Philosophie, Kultur-, Gesellschafts- und Naturwissenschaften richteten. Das Ziel: jungen Menschen die Chance zu bieten, an den Debatten unserer Zeit zu partizipieren sowie Kontakte zu knüpfen.
erfolgte durch Konrad Paul Liessmann, den wissenschaftlichen Leiter des Philosophicums Lech, und „Presse“-Chefredakteur Rainer Nowak.
war das Verfassen eines Essays zum Thema „Ein Gedanke zur Faulheit“. Drei der Texte finden Sie hier abgedruckt. eine Schadensersatzklage einreichen. Weil es in der Pizzeria durch einen Brand zu einer Verzögerung gekommen ist, bleiben ihm an diesem Tag nur zehn Minuten.
Im August 2016 geschah etwas Außergewöhnliches in London: Es kam zum vielleicht ersten Streik in der Geschichte der Gig Economy. UberEats war zwei Monate zuvor lanciert worden als Konkurrenz zum Lieferservice Deliveroo. Nach einem überraschenden Update der App bekamen die Fahrer plötzlich weit weniger Geld als noch zu Anfang. Aber wie protestiert man gegen eine App? Wie verhandelt man mit dem „algorithmischen Management“eines Unternehmens, bei dem man noch nicht einmal offiziell angestellt ist? Als „a strange clash“bezeichnete die „Financial Times“den Streik – zumal sich für die Fahrer sowieso zunächst noch die Frage stellt, wie ein Streik zu organisiere ist, wenn man nicht einmal die Namen der Kollegen kennt. Die Lösung: Die Fahrer loggten sich als Kunden in die App ein und orderten Pizza. Trifft der Lieferant mit der Pizza ein, lässt er sich unter Umständen für die Protestaktion gewinnen.
Man kann sich eine Skala vorstellen, auf der diese Akteure entsprechend der Identifikation mit ihrer Arbeit aufgereiht sind. Der Auslieferator befände sich an dem einen Ende, er geht in seiner Arbeit völlig auf. Die Fahrer von UberEats und Deliveroo befinden sich eher mittig auf der Skala, und sie versuchen, ihre Position zu verändern und der Position des Auslieferators anzunähern. Am ganz anderen Ende sehen wir, etwas verblasst durch die historische Distanz, Arbeiter in einem italienischen Fiat-Werk in Turin 1973. Wie die UberEats-Fahrer hatten sie einige Jahre zuvor begonnen, mit Streiks für einen besseren Lohn zu kämpfen. Nun aber besetzten sie, gegen den Willen der Gewerkschaften, die Fabrik, in der sie arbeiteten. Im Sinne des Operaismus und von Vordenkern wie Mario Tronti und Toni Negri forderten sie: das Ende der Arbeit überhaupt.
Die Forderung nach einem Recht auf Faulheit stellt die Frage nach dem Eigenen und Gemeinsamen neu. Die UberEats-Fahrer können nur gemeinsam Druck ausüben und eine bessere Bezahlung erzwingen. Und doch geht es bei diesem gemeinsamen Kampf um ein besseres Gehalt in erster Linie um das Eigene – um das eigene Gehalt. Zweifellos ließe sich auch der Kampf um das Recht auf Faulheit nur gemeinsam bestreiten. Faulheit selbst aber ist für uns, ähnlich wie das Gehalt, immer nur eigene Faulheit – die Faulheit der anderen ist eben deren „eigene“Faulheit und als solche häufig eher Anlass zur Wut. Es fehlt uns eine Praxis und, so scheint mir, überhaupt ein Begriff von gemeinsam erlebter (gemeinsam gelebter) Faulheit – zumindest wenn man nicht mehr in dem Alter ist, in dem man mit Gleichaltrigen auf verlassenen Spielplätzen abhängt und Zigaretten am falschen Ende anzündet. Doch sind wir überhaupt dazu bereit, gemeinsam für die eigene Faulheit zu kämpfen? Im Gegensatz zur Lohnerhöhung lässt sich Faulheit nur schwer allein genießen. Faulheit in Ein- samkeit ist vor allem Einsamkeit. Die Quellen der Anerkennung sprudeln nicht, wenn man lediglich versucht, das von der Lohnarbeit gegebene Versprechen auf Teilhabe am Gemeinsamen durch einen Kampf für das Eigene (der Faulheit) zu ersetzen. Vielmehr bräuchte es eine wahre Alternative zur Lohnarbeit, die diese Gemeinsamkeit ebenso gut versprechen und dieses Versprechen besser einlösen kann. Es bräuchte einen Begriff von gemeinsamer Faulheit – einer Faulheit, die nicht an die schlechte Unendlichkeit der einsam verbrachten Freizeit erinnert oder an das willkürliche Immergleiche irgendwann einmal gewählter Hobbies. Ich kenne die Göttinnen der Faulheit. Soweit ich weiß, gibt es drei. Drei Schwestern. Ich begegne ihnen regelmäßig. Der einen häufiger als den anderen, aber ich kenne sie alle. Ich glaube, jeder ist allen drei Schwestern schon begegnet. Ihre Mutter ist, soweit ich gehört habe, Kotola, die Göttin der Kreativität, und ihr Vater ist Hortos, der Gott des Vergnügens und des leichten Lebens. Anfangen
Qmöchte ich mit der Erstgeborenen, Muße. Erhaben, intelligent, kreativ. Sie hat den Menschen gezeigt, welchen Wert es haben kann, nichts zu tun. Um sie sehen zu können, ist es notwendig, sich Zeit zu nehmen, sich nichts anderes vorzunehmen als nichts. Langsame Spaziergänge, langes Herumliegen im Garten, die Zeit vor dem Einschlafen im Bett, stilles Kaffeetrinken in der Früh, aber auch das Laufen oder Berggehen sind typische Situationen, in denen ich Muße begegnet bin. Wenn man sie also mit solchen Tätigkeiten beschwört und sich ihr hingibt, belohnt sie einen mit Gaben wie Entspannung, Genuss, dem Auftauchen von guten neuen Ideen. Außerdem hält sie einem hin und wieder einen Spiegel hin, der einen dazu zwingt, sein eigenes Leben und sich selbst zu reflektieren. Das ist auch der Grund, wieso sie so viele Menschen scheuen.
Die mittlere Schwester ist die Göttin des Aufschiebens und Ausweichens, Prokrastinatia. Wie viele mittlere Geschwister hat auch sie ziemliche Aufmerksamkeitsprobleme. Daher rächt sie sich jetzt an der Aufmerksamkeit selbst, der Konzentration im Allgemeinen. Sie ist die dunkle und heimtückische der drei Schwestern. Menschen, die diesem sehr hinterhältigen Weibsbild zum Opfer fallen, werden heute als unter Aufschieberitis leidend bezeichnet. Ich begegne ihr oft. Sie ist eine begnadete Verführerin. Ständig säuselt sie ihren Opfern angenehmere Alternativen ins Ohr: „Trink vorher noch einen Kaffee, dann lernt es sich besser. Du solltest jetzt etwas essen. Schau kurz auf Facebook, ob sich was getan hat. Das hier macht gar keinen Spaß und ist nur mühsam, lass es!“An Tagen, an denen mein Wille schwächer ist und sie mich ganz davon abhält, etwas zu tun, verzweifle ich, gebe auf und werde sehr unzufrieden mit mir. Es werden ganze Bücher über sie und die Kunst, sie zu dominieren, geschrieben. Man muss jedenfalls immer auf der Hut sein, denn der größte Fehler ist es, Prokrastinatia zu unterschätzen.
Das jüngste Geschwister ist Relaxia, das entspannende Nichtstun nach einer langen Anstrengung. Relaxia sorgt sich um jene Menschen, die gerade eine große Überwindung hinter sich gebracht haben. Man muss sich den Besuch dieser jungen, liebevollen Göttin verdienen. Hat man sich ihren Besuch erst einmal verdient, erfüllt einen Relaxia mit ihrem Geist und macht alles zu einer wahren Genugtuung. Jede Couch wird durch sie um ein Vielfaches bequemer, jeder Schluck Wasser so erfrischend, jede Mahlzeit ein kulinarischer Genuss. Ich kann alles Einfache, Entspannende machen, ohne mich dabei schlecht zu fühlen. Je anstrengender das Vorausgegangene war, desto länger und intensiver ist der Besuch von Relaxia.
Das sind die drei Göttinnen der Faulheit. Alle drei verbindet das Nichtstun. Lasst uns die Erstgeborene, Muße, wieder mehr verehren! Ja, wir sollten Feste zu ihren Ehren feiern, Tempel für sie bauen und dankbar sein, dass es sie gibt. Muße ist groß!