So rosa die Zunge des Rehs
Bei uns ist ja der Himmel fast immer weiß und der Verkehr gleichmäßig laut. Er ist einfach da und irgendwann nicht mehr, und obwohl er ein Wal über einer Stadt ist, bemerkt man ihn kaum. Wenn wir Superhelden wären, wärst du Robin und ich Batman, sag ich zur Begrüßung, als du dich zu mir ins Auto setzt. Robin ist doch überhaupt keiner, sagst du, und ich sag, eben, und bevor du mich umarmen kannst und ich merke, dass du es nicht tust, starte ich den Wagen.
Hier stinkt es, sagst du, das ist, modert hier was, ist das feucht am Boden? Ich gebe Gas, und du sagst, schief ist das hier. Der Wagen, der ist doch schief, die eine Seite hängt, und ich sag, das ist die Straße, die bauen was, reißen alles auf.
Du riechst nach Duftladen und Kinderkaugummi, ich unterdrücke einen Hustenreiz. Es ist wie immer zwischen uns: Zwillinge sind wir nicht, das sieht man gleich. Du schmal und hell und zart, ich Kunst, du Vetmed. Veterinärmedizin, ob das dein Ernst ist, hab ich dich damals gefragt, und schnarch, hab ich gesagt. Sag schon, was ist? Du wolltest mir was sagen, dich treffen, am besten im L1, das L1 kennst du noch. Das L1, hab ich gedacht, Feierabenddudelmusik und Laptoptaschen unterm Tisch, aber gesagt hab ich nichts, nur, gut, dann L1. Erst wenn wir dort sind, willst du reden, sagst du jetzt, reibst dir die Nase und schaust dabei auf deine Knie oder den übervollen Aschenbecher.
Und sonst?, sagst du. Hast du noch diesen Typ, diesen . . . den, der immer nur in der Bude gesessen ist und Nudeln abgezählt hat? Nein, sag ich, ist nach Wien gegangen. Wir schweigen eine Weile, ich fahre, du lässt dich für mein Gefühl ein bisschen zu übertrieben mitschütteln. Du tust, als würdest du die Straßen mustern, und ich denke, was schaust du, hier hat sich nichts verändert, darum gehen ja alle nach Wien. Hier ändert sich nie was, deshalb gibt’s ja noch das L1.
Acht Jahre bist du nun schon in Zürich. Oft haben wir uns nicht gesehen, zwischen den Weihnachtstreffen höfliche Geburtstagsgrüße mit zu langen Sprechpausen am Telefon. Mich haben die Pausen nie gestört. Ich hab gedacht, komisch, wenn eine Pause auf die andere trifft, wird das Schweigen ein Rauschen. Aber du bist nervös geworden, hast hineingehustet.
Das mit dem Vetmedstudium hast du durchgezogen, das mit Hermann auch, zwei, drei Jahre waren das. Hermann mit der Spedition, Hermann mit der randlosen Brille. Einmal hab ich euch besucht und auf der Zugfahrt bemerkt, dass ich nicht die geringste Ahnung von deinem Leben habe. Ich hab versucht, mir vorzustellen, wie ihr lebt, Hermann und du. Ob du noch blondere Haare hast und einen Tierarztkittel an. Ich hab mir dich in dem Arztkittel vorgestellt, wie du die Gegend nach verletzten Tieren absuchst, dich in Gummistiefeln und mit Zwingern auf der Rückbank. Dich in einem Suzuki, so ein Försterding mit Ladefläche, mit dem man angefahrene Hirschkühe auf Planen transportieren kann. Hermann und dich an einem Wochentag, wenn ihr mal freihabt, an einem ganz normalen Dienstag. nem wohnt und esst ihr, im anderen sagt Hermann Hanna zu dir. Wie ich auf die Terrasse vorausging, mich in den weichen Polster eines knirschenden Korbsessels in eure Gartenstille fallen ließ und ihr mir gegenüber auf der Bank gesessen seid.
Wie du sagtest, kannst du dich um einen Hasen kümmern, ich kann dir Hasen mitgeben, wir haben ein paar kleine, wenn du welche willst. Dass ich nichts zu sagen wusste, dachte, Hasen, ich bin mitten in der nächsten Performance, was Biblisches mit Kohle, sobald es Marika besser geht, wahrscheinlich wird es wieder eine Installation. Möglich, dass ich nächstes Jahr in München bin, in Köln, wer weiß, mit Stipendium in Rio, und du kommst mir mit Hasen. Und weil ich nichts zu sagen wusste, fragte ich aus reiner Hilflosigkeit, warum eigentlich niemand Geld für Hasen bezahle, aber jeder für Katzen, und ob in der Schweiz Hasen auch nichts wert seien. Wie ihr einen Blick getauscht habt, du zu Hermann gesagt hast, holst du mal einen, nur zum Anschauen. Dass Hermann aufstand und sich im Stehen den Kragen seines weißen Polohemds gerichtet hat, bevor er ging und mit dem schwarzen Hasen am Arm zurückkam. Wie dem Hasen eine Vorderpfote abstand, dass er mich kratzte, als ich umständlich versuchte, ihn zu nehmen. Wie ich sein weiches Fell und die warmen Ohren spürte, wie ich meine Hand auf seinen warmen, runden Bauch legte, in dem sein Herz flatterte.
Dass er blinzelte, wenn ich ihm über den Kopf strich, und wie mir, wegen diesem Blinzeln vielleicht oder dem Pochen in seinem Innern, wegen der warmen Ohren vielleicht, die sich so zart anfühlten unter meinen Fingern, wie mir auf einmal zum Weinen war. Weil mir bewusst wurde, selbst wenn ich wollte, ich könnte mich ja gar nicht kümmern um dieses Tier. Nicht nur wegen der Performance und allem, sondern auch wegen dem Schimmel an der Wand und weil ich nächsten Monat schon aus der Wohnung musste.
Davon hatte ich freilich nichts erzählt. Überhaupt stand einiges an, mich endlich selber versichern, all die Dinge, die ich ständig aufschob. Wer nicht einmal zum Arzt gehen darf, braucht auch kein Tier haben, dachte ich. Deshalb streichelte ich den Hasen einfach emsig weiter, nickte mit zusammengepressten Lippen zu dem, was Hermann und du erzählten, was von den Seychellen und einem Karl mit einem Beachclub, was von Honeymoon und Herbsthochzeiten und wie nineties es eigentlich sei, im Mai zu heiraten.