Frei wie ein Narr
Mit „Tyll“entwirft Daniel Kehlmann das Panorama des Dreißigjährigen Krieges und zeigt: Narren wie heute gab es auch damals. In seiner Rezension des zuletzt erschienenen Romans des diesjährigen Nobelpreisträgers Kazuo Ishiguro, „Der begrabene Riese“, hat sich sein Roman gewissermaßen schon angekündigt: Daniel Kehlmanns Begeisterung für das Genre „historischer Fantasyliteratur“, in das er Ishiguro einordnet, war nicht zu überlesen. „Tyll“ist wohl das: historische Fantasyliteratur, in der Kehlmann Tyll Ulenspiegels Leben in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges verlegt und damit Sage und Historie überblendet. Mit der Wahl eines historischen Stoffes knüpft der 42-jährige Autor mit „Tyll“auch an den Bestseller „Die Vermessung der Welt“an, seinen größten Erfolg.
Mit der Abkehr von der Gegenwart als Zeitfolie und der Kombination von Fantastik mit Historik ist Kehlmann – siehe Ishiguro oder auch Christian Krachts Roman „Die Toten“– in allerbester Gesellschaft. Wie diese Bücher zeigen, muss das Erzählen historischer Stoffe mit fantastischem Einschlag literarisch nicht unbedingt heißen, nichts über die Gegenwart aussagen zu wollen oder zu können. Dass sich der Dreißigjährige Krieg als allegorischer Rahmen bestens eignet, um sich mit aktuellen politischen Tendenzen auseinanderzusetzen, hat auch Bert Brecht mit „Mutter Courage“gezeigt.
Explizit ist der Brückenschlag vom Dreißigjährigen Krieg zur Gegenwart bei Kehlmann nicht auszumachen. Dass er es den Lesenden überlässt, womöglich eine Analogie zu sehen zwischen dem vom Religionskrieg verheerten Europa des 17. Jahrhunderts, in dem krankhaft narzisstische, lächerlich-dümmliche Kurfürsten und Könige die Welt ins Verderben stürzen, die wiederum von plagiierenden Wissenschaftlern (Jesuiten) „erklärt“wird, während die Mehrheit der Menschen nicht lesen und schreiben kann, und dem Europa der Jetztzeit mit etwas anders gelagerten, dennoch auch religiös unterfütterten Problemen (nicht zuletzt, wenn man den Kapitalismus als eine Art Religion betrachtet) und einer neuen Form des Analphabetismus, ist eine Stärke des Romans. Diese mögliche Analogie, die freilich nur in groben Zügen funktionieren kann, weil die heutige Gesellschaft ganz anders organisiert ist, ist der interessanteste Aspekt der Erzählung, die ansonsten vor allem eins ist: ein Feuerwerk an Gags und Pointen – verstehbar für alle, die mit Ironie etwas anfangen können und über humanistische Bildung verfügen.
Der fast 500-seitige Roman wird in acht Teilen, teils im Präsens, teils im Präteritum, erzählt, Schauplätze wechseln, und die Chronologie der Ereignisse ist durchbrochen. Episodisch begegnet man Tyll auf sei-
Daniel Kehlmann Tylll Roman. 480 S., geb., € 23,60 (Rowohlt Verlag, Reinbek) nem Lebensweg, als Kind, Gaukler, Hofnarr und Soldat, aber auch anderen Charakteren, wie dem jungen ehrgeizigen Jesuiten und „Universalgelehrten“des 17. Jahrhunderts, Athanasius Kircher, mit seinem skrupellosen Willen zur Macht und einer großer Begabung zur Blendung oder dem „Winterkönigspaar“Friedrich V. und Liz Stuart, das entfernt an den dämlichen Herzkönig und die herrschsüchtige Herzkönigin aus „Alice im Wunderland“erinnert.
Keiner der Figuren kommt man dabei besonders nahe, vor allem Tyll nicht, der zum „Tool“mutiert, das hilft, die Erzählung zu organisieren, und eher leitmotivischen Charakter hat denn figürliche Tiefe. Um überzeugende psychologische Porträts geht es in „Tyll“insgesamt nicht. Auch das Aufzeigen einer Entwicklung oder die Entfaltung einer Geschichte steht nicht im Mittelpunkt. Am Ende fällt es eher schwer wiederzugeben, wie die Ereignisse kausal zusammenhängen, von denen man häppchenweise vorgesetzt bekam. Auch die Sprache ist nicht die Hauptattraktion, sondern vornehmlich Mittel zum Zweck – beeindruckend ist Kehlmanns präzises Vokabular, mit dem er auftrumpft, zugleich verstört die
Qkalkulierte Nähe zum Blockbuster-Sprech in manchen Dialogen.
„Tyll“ist Idee und Effekt pur. Womit sich Kehlmann als Autor selber vieler Verführungsmöglichkeiten beraubt. Wenn man nicht das Ereignishafte für sich sprechen lässt, nicht mit Nähe zu den Figuren ködert und auch nicht mit sprachlicher Raffinesse glänzt, dann muss die allem zugrunde liegende Idee das Gewicht der Gesamtkonzeption ganz alleine tragen. Ob das gelingen kann, selbst wenn die Idee brillant ist und der Effekt verblüffend, scheint fraglich.
Die Idee von „Tyll“ist alles andere als schlecht. Vor allem ist sie sehr aktuell; gleichzeitig aber auch so leicht auszumachen. An einer Stelle heißt es, jedes Buch sei eine Möglichkeit. Sprache ist zunächst nichts anderes als eine Möglichkeit, nichts in etwas zu verwandeln. Ein Satz ist eine Behauptung. Und damit beginnt alles. Glaubt jemand die Behauptung, wird sie „wahr“, zunächst für ihn; überzeugt er andere, auch für diese. Worin die Behauptung besteht, ist dabei – jedenfalls in „Tyll“– prinzipiell unwichtig. Es herrscht die buchstäbliche Narrenfreiheit, für die Tyll im Roman auch als Symbol steht. Es reicht zu postulieren, zu wissen, zu können, zu sein. Verfügt man über genügend Macht, ausreichend Talent zur Inszenierung und das kleine Quäntchen Glück, wird man damit überzeugen, das heißt gesellschaftlich reüssieren.
Diese Idee der „alternative facts“beherrscht die gesamte Romankonzeption. Alles strukturiert sich um sie herum, dient dazu, ihren Effekt darzustellen – in Hunderten originellen und weniger originellen Pointen in unterschiedlichen Settings mit verschiedenen Figuren. Der Roman hätte genügend Platz, um nicht nur an der Oberfläche Beweis um Beweis anzuführen für die eigene postulierte Angabe, sondern stärker in die Tiefe zu bohren, die Komplexität des Postulats annähernd zu entfalten.
Das geschieht in „Tyll“aber kaum. Das Tempo ist hoch, die Eindringlichkeit der Bilder nicht immer groß, der Zwang zur Pointe unterjocht die Narration. Einzelne Bonmots sind exquisit, und wenn der tollpatschigblöde Friedrich einsam im Schnee stirbt oder die blasierte Liz allein in ihrer Kammer hockt und so tut, als sei das immer noch ein Königssaal und sie die Majestät, dann spürt man die Tragik, die dem Ganzen innewohnt. In solchen Momenten erscheinen die Figuren ambivalent und damit menschlich. Dann entfaltet der ironische Erzählgestus seine Kraft, zeigt sich das immense Potenzial einer tiefer gehenden Auseinandersetzung mit dem Postulat der Romanangabe.
„Tyll“gleicht – wie die Behauptung, die ihm zugrunde liegt – einer sehr starken Behauptung, hinter der man einen der intelligentesten, selbstsichersten deutschsprachigen Autoren unserer Zeit erkennt. Für die Artistik, die Behauptung effektreich zu inszenieren, kann es viel Applaus geben, wie auch Tyll im Roman viel Applaus erntet für seine Akrobatik. Aber Tyll ist kein Zauberer. Und was „Tyll“fehlt, ist Magie.