Gerettetes Dorf, befeuerte Küche
Italien. An Badolato in Kalabrien gehen die Touristenströme noch vorbei. Diesen wieder zum Leben erwachten Ort kennen aber an Vielfalt und kulinarisch-kulturellen Grenzüberschreitungen Interessierte.
Acqua, fuacu e pane ’un se neganu mancu a ri cani (Wasser, Wärme und Brot verweigert man nicht einmal Hunden in Not): So lautet ein kalabresisches Sprichwort, das man in Badolato zum kategorischen Imperativ erhoben hat. Immerhin hat dieses kleine mittelalterliche Bergdorf nahe der ionischen Küste ganze Schiffsladungen an „armen Hunden“mit offenen Armen und gefüllten Tellern willkommen geheißen. Und dadurch nicht nur gestrandete Existenzen, sondern letztlich auch sich selbst vor dem Untergang bewahrt. Denn 1996 stand dieser pittoreske Ort – beziehungsweise seine Häuser – zu einem Großteil zum Verkauf. Eine triste Ansammlung an halb verfallenen Gebäuden, von Gott und der Welt verlassen, von Erdbeben, Arbeitslosigkeit und Überschwemmungen heimgesucht. Gerade einmal ein paar ältere Einwohner, flankiert von 13 Kirchen, Dutzenden Katzen und unzähligen Olivenbäumen, trotzten standhaft der Abwanderung. Dann, kurz nach Weihnachten, kamen die Kurden.
An Bord der rostigen Ararat liefen 800 Boat-People im Hafen von Badolato Marina ein. Menschliches Treibgut, dem das Wasser beinahe bis zum Hals stand. Und die Badolatesi droben vom Berg nahmen 339 Flüchtlinge auf. „Es waren so brave Leute“, erinnert sich die Trafikantin, „alle waren sie sehr höflich, und sie haben stets Mamma zu mir gesagt.“Schon bald haben die Kurden auch fleißig in die Hände gespuckt, die alten Gemäuer auf Hochglanz renoviert und dem Ort neues Leben eingehaucht.
Heute, 20 Jahre später, zählt der atmosphärische Borgo bereits über 3000 Einwohner, bunt gemischt und aus aller Welt. Syrische Asylwerber leben Dach an Dach mit amerikanischen Künstlern, schwedischen Yogi, französischen Köchen, englischen Birdwatchern und italienischen Liedermachern.
Zudem gilt Badolato unter Individualreisenden als Geheimtipp. Nichtsdestoweniger liegt diese architektonische Perle der Provinz Catanzaro nach wie vor abseits der Touristenströme und überfüllten Herbergsbetriebe. Selbst auf der riesigen Piazza mit Panoramablick herrscht kein Kommen und Gehen, sondern ein Sitzen und Verweilen. Idealerweise mit einem Glas Gaglioppo in der Hand. „Bei uns verkehren die Fremden nicht, bei uns schlagen sie über kurz oder lang einfach Wurzeln“, erklärt Domenico Leuzzi dieses Phänomen allgemeiner Entschleunigung. Der Betreiber der Agentur Costa degli Angeli hat zahlreiche der prächtigen antiken Palazzi in geschmackvolle Streuhotels verwandelt. Mit traumhaften Ausblicken auf den Golf von Squillace oder die imposante Anlage der Chiesa dell’Immacolata von 1686. Und mit Einblicken in die Geschichte der Aus- und Einwanderung.
Tiefenschärfe auf Kalabresisch
Sie sind leuchtend rot, allgegenwärtig und katapultieren arglose Gourmets in Sekundenschnelle vom Esstisch ins Fegefeuer –
Enit – italienische Tourismuszentrale, www.enit.at
Costa degli Angeli: Betreiber Domenico Leuzzi spricht perfekt Deutsch, Via Castello 16, 88100 Badolato Borgo, www.calabrianproperties.com
Chichinella: Bar & Delikatessen Corso Umberto I n. 135, 88100 Badolato +39 366 744 5756 die Peperoncini Kalabriens. Bereits homöopathische Dosen dieser süditalienischen Lieblingswürze können – je nach Konstitution – herzerwärmende Momente oder schweißtreibende Zustände hervorrufen. Dennoch ist den Calabresi diese oftmals als „Viagra des Volkes“bezeichnete Schote fast ebenso heilig wie die Jungfrau Maria oder das eigene Kind. Kein Gericht, zu dem nicht tellerweise knackiger „pipi infernali“(höllischer Pfeffer) gereicht wird. Entweder pur, gemahlen oder gut getarnt in Nudelsaucen, Käsestücken oder Salamischeiben. Wobei die pikant-fruchtige Nduja di spilinga, eine geräucherte Streichsalami aus Schweinefleisch, jeden Anfall von intestinalem Masochismus rechtfertigt. Denn nach anfänglichem Leid bereitet die exquisite Nduja auch nachhaltige Freude – und explosive Geschmackserlebnisse.
Natürlich muss man selbst an der sonnigen Stiefelspitze Italiens nicht immer und jederzeit für die Vielfalt an Peperoncini entflammen. Köstliche Auberginen, wilde Karden, eine unendliche Anzahl an pasta al forno (überbackene Nudeln) und die berühmte lila-rötliche Cipolla di tropea (Zwiebel aus Tropea) mit ihrem süßlichen Aroma sorgen für ein weitaus gemäßigteres kulinarisches Klima. Zudem trifft man nahezu überall auf Schwein – lu puorcu – in allen Variationen, denn Rind ist rund um Catania und Catanzaro so selten anzutreffen wie ein Wildschwein in der Wiener Innenstadt.
Stoccu a Mammulisi
Während in nahezu ganz Europa Forellen in hellen Bächlein vorüberschießen, treibt sich im Wasser von Mammola bevorzugt Kabeljau von den norwegischen Lofoten herum. Ein kulturelles wie kulinarisches Kuriosum im rauen Hinterland von Kalabrien, wo man eher deftige Wildschweinkost denn gesunde Nordseeprodukte erwarten würde. Doch Kalabrien is(s)t eindeutig anders. In diesem rustikalen Borgo am Fuße des Silagebirges bestimmt der Stockfisch seit dem Mittelalter das Zentrum des Tafelgeschehens. Eingereist über den Hafen von Pizzo und eingeweicht im Gebirgswasser, das ganz besondere Enzyme enthalten soll, erwacht der Stocco (Stockfisch) in den Küchen von Mammola zu neuem Leben. Als Carpaccio oder frittiert, in Form von Polpette, Ravioli oder am Spieß. Sogar in der Literatur wird diese außergewöhnliche Slow-Food-Spezialität als Maß aller kulinarischen Dinge erwähnt. „Der Stockfisch in Tomatensauce mit Kartoffeln ist genau so köstlich, wie man ihn in Mammola zubereitet“, schreibt etwa Giuliano Belfiore in der „Ehre des Schweigens“. Man muss aber keinesfalls Mafioso sein, um diese Delikatesse zu genießen. Es genügen bereits ein gesunder Appetit und ein anspruchsvoller Gaumen, um sich für dieses ehemalige Super Food der Armen zu begeistern. Und bevor man nach dieser Speisenfolge ins Verdauungskoma fällt, empfiehlt sich jedenfalls ein kleiner Spaziergang zum Musaba, einer beachtlichen Sammlung moderner Kunst auf sieben Hektar Gesamtareal verteilt.