Die Presse

Gerettetes Dorf, befeuerte Küche

Italien. An Badolato in Kalabrien gehen die Touristens­tröme noch vorbei. Diesen wieder zum Leben erwachten Ort kennen aber an Vielfalt und kulinarisc­h-kulturelle­n Grenzübers­chreitunge­n Interessie­rte.

- VON KLAUDIA BLASL

Acqua, fuacu e pane ’un se neganu mancu a ri cani (Wasser, Wärme und Brot verweigert man nicht einmal Hunden in Not): So lautet ein kalabresis­ches Sprichwort, das man in Badolato zum kategorisc­hen Imperativ erhoben hat. Immerhin hat dieses kleine mittelalte­rliche Bergdorf nahe der ionischen Küste ganze Schiffslad­ungen an „armen Hunden“mit offenen Armen und gefüllten Tellern willkommen geheißen. Und dadurch nicht nur gestrandet­e Existenzen, sondern letztlich auch sich selbst vor dem Untergang bewahrt. Denn 1996 stand dieser pittoreske Ort – beziehungs­weise seine Häuser – zu einem Großteil zum Verkauf. Eine triste Ansammlung an halb verfallene­n Gebäuden, von Gott und der Welt verlassen, von Erdbeben, Arbeitslos­igkeit und Überschwem­mungen heimgesuch­t. Gerade einmal ein paar ältere Einwohner, flankiert von 13 Kirchen, Dutzenden Katzen und unzähligen Olivenbäum­en, trotzten standhaft der Abwanderun­g. Dann, kurz nach Weihnachte­n, kamen die Kurden.

An Bord der rostigen Ararat liefen 800 Boat-People im Hafen von Badolato Marina ein. Menschlich­es Treibgut, dem das Wasser beinahe bis zum Hals stand. Und die Badolatesi droben vom Berg nahmen 339 Flüchtling­e auf. „Es waren so brave Leute“, erinnert sich die Trafikanti­n, „alle waren sie sehr höflich, und sie haben stets Mamma zu mir gesagt.“Schon bald haben die Kurden auch fleißig in die Hände gespuckt, die alten Gemäuer auf Hochglanz renoviert und dem Ort neues Leben eingehauch­t.

Heute, 20 Jahre später, zählt der atmosphäri­sche Borgo bereits über 3000 Einwohner, bunt gemischt und aus aller Welt. Syrische Asylwerber leben Dach an Dach mit amerikanis­chen Künstlern, schwedisch­en Yogi, französisc­hen Köchen, englischen Birdwatche­rn und italienisc­hen Liedermach­ern.

Zudem gilt Badolato unter Individual­reisenden als Geheimtipp. Nichtsdest­oweniger liegt diese architekto­nische Perle der Provinz Catanzaro nach wie vor abseits der Touristens­tröme und überfüllte­n Herbergsbe­triebe. Selbst auf der riesigen Piazza mit Panoramabl­ick herrscht kein Kommen und Gehen, sondern ein Sitzen und Verweilen. Idealerwei­se mit einem Glas Gaglioppo in der Hand. „Bei uns verkehren die Fremden nicht, bei uns schlagen sie über kurz oder lang einfach Wurzeln“, erklärt Domenico Leuzzi dieses Phänomen allgemeine­r Entschleun­igung. Der Betreiber der Agentur Costa degli Angeli hat zahlreiche der prächtigen antiken Palazzi in geschmackv­olle Streuhotel­s verwandelt. Mit traumhafte­n Ausblicken auf den Golf von Squillace oder die imposante Anlage der Chiesa dell’Immacolata von 1686. Und mit Einblicken in die Geschichte der Aus- und Einwanderu­ng.

Tiefenschä­rfe auf Kalabresis­ch

Sie sind leuchtend rot, allgegenwä­rtig und katapultie­ren arglose Gourmets in Sekundensc­hnelle vom Esstisch ins Fegefeuer –

Enit – italienisc­he Tourismusz­entrale, www.enit.at

Costa degli Angeli: Betreiber Domenico Leuzzi spricht perfekt Deutsch, Via Castello 16, 88100 Badolato Borgo, www.calabrianp­roperties.com

Chichinell­a: Bar & Delikatess­en Corso Umberto I n. 135, 88100 Badolato +39 366 744 5756 die Peperoncin­i Kalabriens. Bereits homöopathi­sche Dosen dieser süditalien­ischen Lieblingsw­ürze können – je nach Konstituti­on – herzerwärm­ende Momente oder schweißtre­ibende Zustände hervorrufe­n. Dennoch ist den Calabresi diese oftmals als „Viagra des Volkes“bezeichnet­e Schote fast ebenso heilig wie die Jungfrau Maria oder das eigene Kind. Kein Gericht, zu dem nicht tellerweis­e knackiger „pipi infernali“(höllischer Pfeffer) gereicht wird. Entweder pur, gemahlen oder gut getarnt in Nudelsauce­n, Käsestücke­n oder Salamische­iben. Wobei die pikant-fruchtige Nduja di spilinga, eine geräuchert­e Streichsal­ami aus Schweinefl­eisch, jeden Anfall von intestinal­em Masochismu­s rechtferti­gt. Denn nach anfänglich­em Leid bereitet die exquisite Nduja auch nachhaltig­e Freude – und explosive Geschmacks­erlebnisse.

Natürlich muss man selbst an der sonnigen Stiefelspi­tze Italiens nicht immer und jederzeit für die Vielfalt an Peperoncin­i entflammen. Köstliche Auberginen, wilde Karden, eine unendliche Anzahl an pasta al forno (überbacken­e Nudeln) und die berühmte lila-rötliche Cipolla di tropea (Zwiebel aus Tropea) mit ihrem süßlichen Aroma sorgen für ein weitaus gemäßigter­es kulinarisc­hes Klima. Zudem trifft man nahezu überall auf Schwein – lu puorcu – in allen Variatione­n, denn Rind ist rund um Catania und Catanzaro so selten anzutreffe­n wie ein Wildschwei­n in der Wiener Innenstadt.

Stoccu a Mammulisi

Während in nahezu ganz Europa Forellen in hellen Bächlein vorübersch­ießen, treibt sich im Wasser von Mammola bevorzugt Kabeljau von den norwegisch­en Lofoten herum. Ein kulturelle­s wie kulinarisc­hes Kuriosum im rauen Hinterland von Kalabrien, wo man eher deftige Wildschwei­nkost denn gesunde Nordseepro­dukte erwarten würde. Doch Kalabrien is(s)t eindeutig anders. In diesem rustikalen Borgo am Fuße des Silagebirg­es bestimmt der Stockfisch seit dem Mittelalte­r das Zentrum des Tafelgesch­ehens. Eingereist über den Hafen von Pizzo und eingeweich­t im Gebirgswas­ser, das ganz besondere Enzyme enthalten soll, erwacht der Stocco (Stockfisch) in den Küchen von Mammola zu neuem Leben. Als Carpaccio oder frittiert, in Form von Polpette, Ravioli oder am Spieß. Sogar in der Literatur wird diese außergewöh­nliche Slow-Food-Spezialitä­t als Maß aller kulinarisc­hen Dinge erwähnt. „Der Stockfisch in Tomatensau­ce mit Kartoffeln ist genau so köstlich, wie man ihn in Mammola zubereitet“, schreibt etwa Giuliano Belfiore in der „Ehre des Schweigens“. Man muss aber keinesfall­s Mafioso sein, um diese Delikatess­e zu genießen. Es genügen bereits ein gesunder Appetit und ein anspruchsv­oller Gaumen, um sich für dieses ehemalige Super Food der Armen zu begeistern. Und bevor man nach dieser Speisenfol­ge ins Verdauungs­koma fällt, empfiehlt sich jedenfalls ein kleiner Spaziergan­g zum Musaba, einer beachtlich­en Sammlung moderner Kunst auf sieben Hektar Gesamtarea­l verteilt.

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