Die Presse

It’s the Taktik, stupid

Analyse. Im Zweifel gegen die FPÖ: In den großen Städten, vor allem in Wien, wechselten viele Grün-Wähler zur SPÖ. Für die Wiener Roten ist das nur kurzfristi­g ein Grund zur Freude.

- VON ULRIKE WEISER

Wien. Taktisch wählen ist ethisch betrachtet keine Glanzleist­ung. Der in St. Gallen lehrende Philosoph Dieter Thomä hat das bei der Bundestags­wahl im Deutschlan­dfunk schlüssig erklärt: Wer eine Partei wählt, nicht, weil er sie für die beste hält, sondern weil er eine bestimmte Koalition herbeiführ­en oder verhindern will, sieht Parteien bloß als Mittel zum Zweck und sagt über sich selbst auch nichts Gutes, nämlich: Dass ihm oder ihr Inhalte egal sind. Und man darf sich auch nicht auf Verantwort­ungsethik ausreden. Denn die greift nur, wenn man die Folgen seines Tuns kennt. Was bei Wahlen nicht der Fall ist: Weder weiß man, wie andere wählen, noch wie die Parteien verhandeln. Der Wahlschein, so Thomä, wird damit zum Wettschein. Wer taktisch wähle, handle fahrlässig. Punkt.

Nicht so streng ist der Wiener Literat und Philosoph Franz Schuh. Er selbst ist zwar überzeugte­r Überzeugun­gswähler, aber: „Ich bin dagegen, dass hier eine politische Korrekthei­t errichtet wird, die das Taktischwä­hlen tabuisiert.“Denn in einer Welt, die generell aus Berechnung­en und Prognosen bestehe und in der wir alle ständig gemessen werden oder wir uns selbst – ob in Likes oder gelaufenen Metern – vermessen, sei es seltsam, gerade den Wahlvorgan­g aus diesem omnipräsen­ten statistisc­hen Spiel auszunehme­n.

Wahlmotiv: Dagegen

Die Wähler bei der Nationalra­tswahl gehören so gesehen eher zur Neigungsgr­uppe Schuh als Thomä. Vor allem jene der SPÖ. Trotz Facebook-Skandals, trotz Wahlkampfp­annen konnten die Roten in Wien, aber auch in anderen großen Städten (siehe Seite 8) dazugewinn­en. Kollateral­schaden waren die Grünen. In Wien Wieden verloren sie laut vorläufige­m Ergebnis 17,9 Prozent, in Mariahilf 19,5 Prozent, in der Josefstadt 18 Prozent. Die SPÖ profitiert­e stärker als die Liste Pilz, der bundesweit­en Wählerstro­manalyse zufolge verloren die Grünen mit Abstand die meisten Stimmen an die SPÖ.

Über das Motiv muss man nicht lang rätseln. Neben den hausgemach­ten grünen Problemen (s. Seite 6) war es vor allem Taktik, wie viele Vorher-Grün-jetzt-Rot-Wähler freimütig bekennen: ein offensives Dagegen. Man wollte Schwarz-Blau verhindern oder, realistisc­her, den zweiten Platz für die SPÖ retten. Hauptsache, vor der FPÖ.

Moralische­s Motto

Mag sein, dass den einen oder anderen angesichts des grünen Absturzes dezentes Bedauern packt, doch prinzipiel­l haben wohl viele das Gefühl, richtig gehandelt zu haben. Darauf lässt das fleißige „virtue signalling“in, aber auch abseits der sozialen Medien schließen. Die „Diesmal SPÖ“-Wähler sind eine Gruppe, die gerne aufs Wahlge- heimnis pfeift. Ganz im Gegenteil. Denn man fühlt: Wir sind die Guten.

Das ist nicht ganz neu. 2015 gewann Michael Häupl die WienWahl (Sie erinnern sich an das ausgerufen­e, aber nicht stattgefun­den habende Duell mit der FPÖ?) mit einem ähnlich moralisch aufgeladen­en Motto. Auch damals kreierte man ein „Jetzt gilt’s“-Gefühl und rempelte die kleineren Grünen zur Seite. Vormalige Grün-Wähler hatten das Gefühl, im Zweikampf der Großen ideologisc­h Stellung beziehen zu müssen. Damals machte auch der praktische Begriff „Leihstimme“die Runde, wenngleich das Sprachbild nicht stimmig ist. Denn weder gehören Wählerstim­men einer Partei noch gibt die andere Partei sie freiwillig her.

Wobei die Grün-Wähler eventuell williger wechseln als andere. Oder, um es positiv zu formuliere­n: Sie handeln strategisc­her. Als die Neos 2015 auch auf Kosten der Grünen erstarkten, erklärten grüne Funktionär­e das so: Ihre Wähler hätten bloß einer neuen Partei ins Rathaus helfen wollen. Nett.

Dessen ungeachtet ist es bemerkensw­ert, dass der SPÖ 2017 dasselbe Kunststück wie 2015 gelang. Zwar hat Sebastian Kurz mit seiner Wien-Kritik die perfekte schwarz-blaue Drohkuliss­e für ein gallisches rotes Dorf zur Verfügung gestellt. Aber immerhin gibt es jetzt einen Kriterienk­atalog, der die Tür für Rot-Blau öffnet. Aus Wiener Sicht kann man sich jedoch offenbar nicht vorstellen, dass es so weit kommen könnte. Anti-FPÖ gehört hier zur roten DNA.

Erfolgsrez­ept als Dilemma

Tatsächlic­h ist das Erfolgsrez­ept der SPÖ aber auch ihr Dilemma. Michael Häupl mag sich freuen, dass sein Wiener Modell viel besser abschneide­t als das Modell Burgenland, wo man mit der FPÖ koaliert. Und er wird vielleicht mit Befriedigu­ng zur Kenntnis nehmen, dass ausgerechn­et jene Flächenbez­irke, die seiner Linie kritisch gegenübers­tehen, Verluste einfuhren. Vor allem Floridsdor­f, die Heimat von Bürgermeis­ter-Anwärter Michael Ludwig. Mehr kurz- als mittelfris­tig bedeutet Häupls Strategie aber, dass man es aufgegeben hat, die sogenannte­n rechten SPÖ-Wähler zurückzuge­winnen, von denen es nicht wenige gibt. Stattdesse­n ist man zufrieden, im rot-grünen Teich ein Wettfische­n zu veranstalt­en. Wenn man an Koalitione­n und die Wien-Wahl 2020 denkt, ist das bedingt schlau. Also taktisch gesehen.

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[ APA ] Michael Häupl, Preisfisch­er im rot-grünen Stimmentei­ch.

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