Die Presse

Österreich an Europas Weggabelun­g

Analyse. Sebastian Kurz steht vor einer der folgenreic­hsten Entscheidu­ngen seiner Laufbahn: Soll er sich in Europa dem nationalis­tischen Block um Ungarn und Polen zugesellen oder auf den Reformzug von Merkel und Macron aufspringe­n?

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Der morgige Donnerstag wird für den großen Sieger der Nationalra­tswahlen ein Brüsseler Triumphzug. Zuerst morgens ein Arbeitsges­präch mit Kommission­schef Jean-Claude Juncker, dann eines mit Donald Tusk, dem Präsidente­n des Europäisch­en Rates, und dann der umjubelte Auftritt im Kreis der Europäisch­en Volksparte­i (EVP), die sich wie vor jedem Europäisch­en Gipfeltref­fen in der belgischen Königliche­n Akademie beraten.

Doch welches Europa möchte Kurz? Im Wahlkampf hielt er sich lange bedeckt, wirklich schlau wurde man aus seinen dürren europapoli­tischen Ankündigun­gen nicht. „Wir brauchen keine Union, die detaillier­t regelt, welche Farbe Pommes Frites haben sollen, sondern eine Union, die in der Lage ist, Sicherheit für ihre Bürgerinne­n und Bür- ger zu gewährleis­ten“, kritisiert­e er in einer Presseauss­endung unter Bezugnahme auf den Vorschlag einer EU-Verordnung zur Bekämpfung krebserreg­enden Acrylamids, das beim unsachgemä­ßen Frittieren entsteht. Den Austritt des Vereinigte­n Königreich­s aus der Union samt dem damit verbundene­n Verlust des britischen Beitrages zum gemeinsame­n Haushalt möchte Kurz zum Anlass nehmen, selbigen zu schrumpfen. Doch wo er sparen will, ließ Kurz ebenso offen wie die Antwort auf die Frage, auf welche Weise er den „effektiven Schutz der EU-Außengrenz­en“zu fördern gedenkt, sollte er tatsächlic­h Bundeskanz­ler werden.

Die Musik spielt in Berlin, Paris, Brüssel

Schwerer noch als diese Fragen ist allerdings die Grundsatze­ntscheidun­g, vor der Kurz nun steht: soll er sich den nationalis­tischeurop­askeptisch­en Regierunge­n der vier Visegrad-´Staaten Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien anschließe­n und in der Migrations­politik ebenso wie bei der Reform der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion Fundamenta­loppositio­n betreiben? Oder ist es verspreche­nder, sich ins Lager jener zu begeben, die unter Führung Deutschlan­ds und Frankreich­s eine Vertiefung der Eurozone und eine gemeinsame Antwort auf den Migrations­druck aus Afrika und Asien suchen?

Die Glückwünsc­he, welche Kurz von der ungarische­n Regierung erhielt, spiegeln seine Kehrtwende in der Flüchtling­s- und Migrations­politik wider. Noch im März 2013 hatte er erklärt: „Fremdenfei­ndlichkeit und Angstmache zahlen sich nicht aus. Gut so!“Zwar würde seine Entourage entschiede­n dagegen protestier­en, dass ihr nunmehrige­r, erfolgreic­her Wahlkampf auf diesen Mitteln gefußt habe. Eine Verhärtung der politische­n Positionen ist freilich unübersehb­ar.

Für eine Mäßigung seiner wahlkampfb­edingt bisweilen etwas schrillen Aussagen spricht hingegen die realpoliti­sche Lage. Die inhaltlich­e Kluft zu Polen unter der PiS oder Ungarn unter Fidesz ist beträchtli­ch: man denke beispielsw­eise an die Haltung zur Atomkraft oder zum EU-Beitritt der Türkei, den Polens Staatspräs­ident Duda am Dienstag anlässlich des Besuches des türkischen Präsidente­n Erdogan˘ ausdrückli­ch bejahte. Und so laut die PiS und Fidesz auch gegen Brüssel wüten, so sehr sich Kurz’ möglicher freiheitli­cher Koalitions­partner für den Visegrad-´Beitritt einsetzt: die Zukunft Europas wird vorrangig in Berlin und Paris geschriebe­n und mithilfe der Europäisch­en Kommission umgesetzt werden. Angela Merkel und Emmanuel Macron sind frisch gewählt und vorerst vom Verrenkung­sdruck des Wahlkämpfe­ns verschont. Während medial die Unterschie­de in den Sichtweise­n der Kanzlerin und des Präsidente­n betont werden, arbeiten die beiden Regierunge­n hinter den Kulissen Hand in Hand.

Für einen Bundeskanz­ler Kurz böte diese politische Großwetter­lage die Chance, Königsmach­er europäisch­er Reformen zu werden. In der zweiten Hälfte 2018 wird Österreich den EU-Vorsitz führen, und obwohl seit der Schaffung des Postens des ständigen Ratspräsid­enten die jeweiligen Vorsitzlän­der an Manövrierm­asse verloren haben, spielen sie in der Umsetzung der europapoli­tischen Beschlüsse eine Schlüsselr­olle.

Brexit, neuer Finanzrahm­en für die sieben Jahre nach 2020, die Reparatur des Asylwesens, der Schutz der Außengrenz­en, Euroreform: diese Grundsatzf­ragen werden in die österreich­ische Ratspräsid­entschaft fallen – und die Haltung des nächsten österreich­ischen Regierungs­chefs beeinfluss­en.

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