Österreich an Europas Weggabelung
Analyse. Sebastian Kurz steht vor einer der folgenreichsten Entscheidungen seiner Laufbahn: Soll er sich in Europa dem nationalistischen Block um Ungarn und Polen zugesellen oder auf den Reformzug von Merkel und Macron aufspringen?
Brüssel. Der morgige Donnerstag wird für den großen Sieger der Nationalratswahlen ein Brüsseler Triumphzug. Zuerst morgens ein Arbeitsgespräch mit Kommissionschef Jean-Claude Juncker, dann eines mit Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates, und dann der umjubelte Auftritt im Kreis der Europäischen Volkspartei (EVP), die sich wie vor jedem Europäischen Gipfeltreffen in der belgischen Königlichen Akademie beraten.
Doch welches Europa möchte Kurz? Im Wahlkampf hielt er sich lange bedeckt, wirklich schlau wurde man aus seinen dürren europapolitischen Ankündigungen nicht. „Wir brauchen keine Union, die detailliert regelt, welche Farbe Pommes Frites haben sollen, sondern eine Union, die in der Lage ist, Sicherheit für ihre Bürgerinnen und Bür- ger zu gewährleisten“, kritisierte er in einer Presseaussendung unter Bezugnahme auf den Vorschlag einer EU-Verordnung zur Bekämpfung krebserregenden Acrylamids, das beim unsachgemäßen Frittieren entsteht. Den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union samt dem damit verbundenen Verlust des britischen Beitrages zum gemeinsamen Haushalt möchte Kurz zum Anlass nehmen, selbigen zu schrumpfen. Doch wo er sparen will, ließ Kurz ebenso offen wie die Antwort auf die Frage, auf welche Weise er den „effektiven Schutz der EU-Außengrenzen“zu fördern gedenkt, sollte er tatsächlich Bundeskanzler werden.
Die Musik spielt in Berlin, Paris, Brüssel
Schwerer noch als diese Fragen ist allerdings die Grundsatzentscheidung, vor der Kurz nun steht: soll er sich den nationalistischeuropaskeptischen Regierungen der vier Visegrad-´Staaten Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien anschließen und in der Migrationspolitik ebenso wie bei der Reform der Wirtschafts- und Währungsunion Fundamentalopposition betreiben? Oder ist es versprechender, sich ins Lager jener zu begeben, die unter Führung Deutschlands und Frankreichs eine Vertiefung der Eurozone und eine gemeinsame Antwort auf den Migrationsdruck aus Afrika und Asien suchen?
Die Glückwünsche, welche Kurz von der ungarischen Regierung erhielt, spiegeln seine Kehrtwende in der Flüchtlings- und Migrationspolitik wider. Noch im März 2013 hatte er erklärt: „Fremdenfeindlichkeit und Angstmache zahlen sich nicht aus. Gut so!“Zwar würde seine Entourage entschieden dagegen protestieren, dass ihr nunmehriger, erfolgreicher Wahlkampf auf diesen Mitteln gefußt habe. Eine Verhärtung der politischen Positionen ist freilich unübersehbar.
Für eine Mäßigung seiner wahlkampfbedingt bisweilen etwas schrillen Aussagen spricht hingegen die realpolitische Lage. Die inhaltliche Kluft zu Polen unter der PiS oder Ungarn unter Fidesz ist beträchtlich: man denke beispielsweise an die Haltung zur Atomkraft oder zum EU-Beitritt der Türkei, den Polens Staatspräsident Duda am Dienstag anlässlich des Besuches des türkischen Präsidenten Erdogan˘ ausdrücklich bejahte. Und so laut die PiS und Fidesz auch gegen Brüssel wüten, so sehr sich Kurz’ möglicher freiheitlicher Koalitionspartner für den Visegrad-´Beitritt einsetzt: die Zukunft Europas wird vorrangig in Berlin und Paris geschrieben und mithilfe der Europäischen Kommission umgesetzt werden. Angela Merkel und Emmanuel Macron sind frisch gewählt und vorerst vom Verrenkungsdruck des Wahlkämpfens verschont. Während medial die Unterschiede in den Sichtweisen der Kanzlerin und des Präsidenten betont werden, arbeiten die beiden Regierungen hinter den Kulissen Hand in Hand.
Für einen Bundeskanzler Kurz böte diese politische Großwetterlage die Chance, Königsmacher europäischer Reformen zu werden. In der zweiten Hälfte 2018 wird Österreich den EU-Vorsitz führen, und obwohl seit der Schaffung des Postens des ständigen Ratspräsidenten die jeweiligen Vorsitzländer an Manövriermasse verloren haben, spielen sie in der Umsetzung der europapolitischen Beschlüsse eine Schlüsselrolle.
Brexit, neuer Finanzrahmen für die sieben Jahre nach 2020, die Reparatur des Asylwesens, der Schutz der Außengrenzen, Euroreform: diese Grundsatzfragen werden in die österreichische Ratspräsidentschaft fallen – und die Haltung des nächsten österreichischen Regierungschefs beeinflussen.