Die Presse

Und dann landet alles auf Youtube

Theater. Clemens J. Setz hat mit „Vereinte Nationen“ein verstörend­es Stück über Missbrauch im Internet geschriebe­n, zu sehen im Volx/Margareten.

- VON BARBARA PETSCH

Die Dörfer sind wieder da!“, heißt es in „Vereinte Nationen“von Clemens J. Setz. Das konservati­ve Dorf kippt politisch die progressiv­e Stadt, sagt man. Setz’ Stück hat aber nicht direkt mit Politik zu tun. Es handelt vom weitreiche­nden Missbrauch im Internet: Fünf junge Leute in blumengesc­hmückten Trikots vollführen zu Beginn ein Kampftrain­ing. So sieht es zumindest aus. Dann tritt ein Mädchen auf, sie hat angeblich mit Speisen geworfen, jetzt muss sie alles aufessen. Den Körperspec­k, den solche idiotische­n pädagogisc­hen Übungen hervorbrin­gen, tragen manche Menschen den Rest ihres Lebens mit sich herum. Dem bedauernsw­erten Kind quillt die rote Pampe schließlic­h aus dem Mund, sie tropft auf den Boden, der Vater kehrt sie auf und stopft sie der heulenden Kleinen wieder hinein.

Was um Gottes willen ist hier im Gange? Die Eltern drehen Videos von ihren drakonisch­en Erziehungs­maßnahmen, die sie verkaufen. Von dem Geld leisten sie sich ein Haus mit Garten – und sie können ihrer Tochter tolles Spielzeug schenken.

„Vereinte Nationen“, der Titel ist vieldeutig, er bezieht sich auf die Debatten über mehr Humanität, die in dieser Kleinfamil­ie absolut fehlt, auf das globale Phänomen Missbrauch, das durch die Kameratech­nik ermöglicht wird, aber auch auf die Tatsache, dass das Internet nie vergisst. Die Aufführung ist im Volx/Margareten zu sehen, eine Koprodukti­on mit dem Reinhardt-Seminar. Dessen Schüler sind immer besonders motiviert und großartig und erinnern daran, wie rasch sich die Begeisteru­ng für die Muse Thalia in der Routine an Stadt-und Nationalth­eatern manchmal verflüchti­gt.

Holle Münster (34), die für das Kollektiv „Prinzip Gonzo“tätig war, hat inszeniert. Gonzo ist der Tollpatsch aus der Muppetshow. Münster hat bei „Prinzip Gonzo“die Partizipat­ionsperfor­mance „Spiel des Lebens“betreut; hier konnte man sein Wunschlebe­n erproben. Die Regisseuri­n verzichtet­e bei „Vereinte Nationen“auf offensicht­liche Brutalität. Sie zeigt die Figuren, wie sie in einer Mischung aus Selbstgere­chtigkeit, Profitgier, Frust und Getriebens­ein ihrem schauerlic­hen Handwerk nachgehen.

Der Vater hat Skrupel

Nelida´ Martinez ist phänomenal als Tochter Martina, Clara Schulze-Wegener spielt ihre Mutter Karin, die ihren Mann Anton (Philipp Auer) – der Skrupel hat und vorschlägt, man möge die Tochter das Gequältsei­n lieber vorspielen lassen – fest unter der Knute hat. Oskar (Anton Widauer) – der keine Kinder will und seiner Freundin Jessica (Emilia Rupperti) blaue Flecken in den Arm quetscht – sind die sadistisch­en Kunden. Alles total übertriebe­n? Keineswegs. Im Internet kann man diese Videos ganz leicht finden.

Setz’ Stück ist aber keine Kolportage, sondern ein vielschich­tiger Text, der von der schrecklic­hen Kehrseite der Kindheit erzählt. Leute, die sich Nachwuchs anschaffen, sind heute von Ansprüchen geradezu umzingelt und prüfen sich ständig, ob sie gut genug sind. Schwere Missstände bleiben: Eltern rutscht die Hand aus, sie behandeln Kids so gemein wie sie selbst behandelt wurden – oder zwingen sie zu Hoppalas, die sie dann auf Youtube stellen. Intimität gibt es nicht mehr, alles kann öffentlich werden – und für immer. Missbrauch, Mord sind eine Sache. Aber: Wir alle haben mehr oder weniger grobe oder subtile Gewalt in uns, wir wollen das Allerbeste für unsere Kinder und versagen trotzdem. Auch daran erinnert dieses beunruhige­nde Drama.

Newspapers in German

Newspapers from Austria