Spiegelfechterei um die Entsenderichtlinie
Die Sozialminister verkeilen sich in einen Kleinkrieg darüber, wie lange Arbeitnehmer entsendet werden sollen. Der Streit entzweit Ost und West, echte Probleme wie Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit bleiben ungelöst.
Brüssel. Nicht einmal jeder hundertste Arbeitnehmer in Europa versieht seine Dienste in einem anderen Mitgliedstaat, und trotzdem verhärtet der Streit über die Entsenderichtlinie eine weitere Front im Verhältnis zwischen den reicheren westlichen und den ärmeren östlichen Mitgliedstaaten der Union. In mehreren Verhandlungsrunden rangen die europäischen Arbeits- und Sozialminister am Montag bei ihrem Ratstreffen in Luxemburg um eine Einigung über die Reform dieses Gesetzestextes. Zu Redaktionsschluss der „Presse“war eine Übereinkunft noch nicht in Sicht, sämtliche Delegationen hatten in Erwartung langwieriger Verhandlungen sicherheitshalber Hotelzimmer bis Dienstag reserviert. „Luxemburg komplett ausgebucht“, sagte ein Verhandlungsteilnehmer schon am Freitag zur „Presse“.
Worum es geht, ist schnell erzählt: die Entsendung von Arbeitnehmern in ein anderes Unionsmitglied ist zu einem der großen Zankäpfel zwischen Ost und West geworden. Wer für zeitlich befristete Dauer zur Arbeit auf einer Baustelle, in der Fertigung, Altenpflege, in der Logistik oder einer anderen Branche entsendet wird, hat schon gemäß des Wortlautes der im Jahr 1996 beschlossenen Richtlinie nach denselben Mindestlohnbestimmungen und unter den selben arbeitsschutzrechtlichen Bedingungen beschäftigt zu werden. So ein entsendeter Arbeitnehmer bleibt für die Dauer des Auftrages in seinem Heimatland sozialversichert.
Scheinunternehmer aus Briefkästen
Doch diese Regelung ließ zu viele Schlupflöcher für missbräuchliche Konstruktionen offen, die es ermöglichten, dass Arbeitnehmer aus den ärmeren postkommunistischen Niedriglohnstaaten die westlichen Arbeitskosten deutlich unterboten. Zudem war der Vollzug dieser Richtlinie nicht gut genug geregelt, die sogenannte Durchsetzungsrichtlinie, im Jahr 2014 beschlossen, vermochte das nur ansatzweise zu beheben. Und die Missbräuche sind mannigfach: beginnend bei der Weitergabe von Aufträgen an eine Kette von Subunternehmern, die sich dem Zugriff der Arbeitsinspektorate entziehen, bis zum Entstehen von Briefkastenfirmen in Niedriglohnländern, die dort keine eigenen wirtschaftliche Tätigkeit entfalten, sondern einzig dazu gegründet wurde, um billige Arbeitnehmer nach Westeuropa zu schicken. Vor einigen Monaten erst, berichten französische Diplomaten, habe eine ministerielle Delegation bei einem Arbeitsbesuch in Warschau die Namen polnischer Rechtsanwälte vorgelegt, an deren Kanzleiadressen Dutzende solcher Scheinfirmen registriert sind. Das Echo der polnischen Regierungsstellen sei eher verhalten gewesen.
In Frankreich vor allem wurden die „travailleurs detach´es“´ zum Symbol eines Binnenmarktes, der unter Aushöhlung hart erfochtener Sozialstandards und Lohnniveaus den Wohlstand untergräbt. Präsident Emmanuel Macron hat die Reform der Richtlinie zur Chefsache erklärt, und die Europäische Kommission hat schon im vorigen Jahr vorgeschlagen, die maximale Entsendedauer auf 24 Monate zu begrenzen. Danach solle der Arbeitnehmer voll unter die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften des Landes fallen, in dem er arbeitet.
EU-Sozialversicherungsnummer fehlt
Das sehen wiederum die östlichen Staaten als Angriff auf eine wichtige Möglichkeit ihrer Bürger, unter Wahrnehmung einer der vier Grundfreiheiten mit ihrer Arbeitskraft im Ausland Löhne zu erzielen, die zwar niedriger sein mögen als dort, aber wesentlich höher als im Osten. Und so steckten die Minister am Montag in Luxemburg im Klein krieg fest: 24 Monate? Zwölf Monate? 20 Monate? Und mit welcher Übergangsfrist?
Die eigentlichen schwerwiegenden Probleme bei der Entsendung von Arbeitnehmern werden freilich auch in diesem reformierten Gesetzestext nicht gelöst. Scheinselbstständigkeit und Schwarzarbeit zum Beispiel ließen sich mit der Einführung einer einheitlichen EU-Sozialversicherungsnummer wesentlich besser bekämpfen. Doch ein entsprechender Vorbringen von Arbeitsund Sozialkommissarin Marianne Thyssen steckt noch in der Frühphase – und wird wohl erst von der nächsten Kommission nach 2019 vorangetrieben werden.