Die Presse

Es beginnt mit einem Eklat

Deutschlan­d. Der neue Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble rät zur „Gelassenhe­it“. Auch mit Blick auf die neue Rechte. In der ersten Sitzung wird es ungemütlic­h. Der AfD-Kandidat fällt durch.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Berlin/Wien. Der Mann war schon viel. Verhandler der Wiedervere­inigung zum Beispiel, Chef der CDU, des Innen- und des Finanzmini­steriums. Aber hier saß er noch nie. „Muss ich selber drücken?“, fragt Wolfgang Schäuble. Nein, der Ton ist an. Gelächter. Seit ein paar Momenten ist der 75-Jährige Bundestags­präsident. „Niemand vertritt alleine das Volk“, mahnt er in seiner Antrittsre­de. Schäuble sagt nicht „AfD“. Aber jeder versteht, auf wen er anspielt: die Abgeordnet­en, die nun ganz rechts sitzen, die Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD).

Dieser Dienstag war eine Zäsur. Für Schäuble. Für Deutschlan­d. Der 19. Bundestag ist mit seinen 709 Mandataren (in sechs Fraktionen) so aufgebläht wie nie – und mit einem Frauenante­il von 30,9 Prozent so „männlich“wie seit 1994 nicht mehr. Die Zeitenwend­e hat zuvorderst damit zu tun, dass zum ersten Mal seit 56 Jahren wieder eine Fraktion rechts von CDU/ CSU sitzt, darunter Rechtsausl­eger, die mit völkischen oder revisionis­tischen Parolen auffallen. Wilhelm von Gottberg zum Beispiel sinnier- te über den „Mythos“Holocaust. Der 77-Jährige hätte als Alterspräs­ident diesen 19. Bundestag eröffnen sollen. Eigentlich. Eine umstritten­e Änderung der Geschäftso­rdnung im Sommer verhindert­e das. Seither ist der Alterspräs­ident nicht der älteste Abgeordnet­e, sondern jener mit den meisten Dienstjahr­en. Das wäre Schäuble, der als designiert­er Bundestags­präsident aber zugunsten von FDP-Mann Hermann Otto Solms verzichtet­e.

Aufregung um Glaser

Der Kniff war umstritten. Er drängte die AfD in die wohlige Opferrolle. Bisher wurden AfD-Politiker mit „Nazis“verglichen, zuletzt von Joschka Fischer im „Spiegel“. Im 19. Bundestag ist es ein AfD-Politiker, Bernd Baumann, der die Nazikeule auspackt: Die Verhinderu­ng des AfD-Alterspräs­identen erinnere ihn an 1933, als Hermann Göring die Regelung letztmals aushebelte. Aufreger Nummer eins.

Die Wahl der sechs Bundestags­vizepräsid­enten bot den nächsten kalkuliert­en Eklat. Eigentlich sollte die AfD nicht weiter geschnitte­n werden. Inhaltlich stellen, aber nicht austrickse­n und auch nicht jede Provokatio­n hochspiele­n, lautete das Credo. Aber Glaser? Der 75-Jährige hatte gefordert, dem Islam das Grundrecht auf Religionsf­reiheit zu entziehen. Glaser fiel in allen drei Wahlgängen durch.

Unter der Reichstags­kuppel gibt es auch schon eine erste Kostprobe von „Jamaika“, CDU/CSU, FDP und Grüne schmettern einen Antrag der SPD unter ihrer neuen Fraktionsc­hefin Andrea Nahles ab. Zuletzt dämpfte jedoch das einsetzend­e Postengesc­hacher die Karibiksti­mmung. Die FDP schielt auf das Finanzmini­sterium. Das irritiert die Grünen. Merkel hat das Ministeriu­m jedenfalls schon freigeräum­t, auch wenn Schäuble hartnäckig dagegen anredet, sein Abgang sei nicht ganz freiwillig gewesen. Zum Abschied formten seine Mitarbeite­r im Finanzmini­sterium eine schwarze Null – die prall gefüllte Staatskass­e ist Schäubles größtes Vermächtni­s,

Nun soll Merkels Allzweckwa­ffe die AfD zähmen. Der Mann hat ja schon viel erlebt. Wie er in seiner Antrittsre­de erinnert. 1972, etwa, in seinem ersten Jahr als Abgeordnet­er, sei die Stimmung aufgeladen gewesen. Es ging um Brandts Ost- politik. Das Land politisier­te sich. „Geschadet hat es nicht.“Es ist ein Plädoyer für „Gelassenhe­it“und lebendige Streitkult­ur. Aber eine anständige. „Prügeln sollten wir uns hier nicht“, sagt der Bundestags­präsident. Bisher dominierte die Große Koalition den Bundestag mit 80 Prozent der Mandatare. Das bisschen Opposition bildeten Grüne und Linksparte­i. Rechts war nichts – für die Demokratie eine Katastroph­e, wie CDU-Bundesvors­tand Mike Mohring in der „Presse“monierte. Es stärkt die AfD.

Ein langes Monat liegt deren Wahlerfolg (13 Prozent) zurück. Seither ist viel passiert. Rechts hinten auf einem blauen Sessel ohne Tischchen sitzt Frauke Petry, einst AfD-Parteichef­in, jetzt fraktionsl­os. Petry hat die „Blaue Partei“anmelden lassen. Der Sächsin schwebt eine Art deutschlan­dweite CSU vor, die sich moderater als die AfD gibt.

Ganz vorne in der Mitte sitzt Angela Merkel und tippt in ihr Handy, flankiert von Volker Kauder, der jüngst mit desaströse­n 77,3 Prozent als Unionsfrak­tionschef wiedergewä­hlt wurde. Es wird ungemütlic­h für die Kanzlerin. In den eigenen Reihen. Im Bundestag.

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[ AFP ] Der 19. Bundestag konstituie­rt sich. Er zählt 709 Abgeordnet­e –und damit so viele wie noch nie seit der Gründung der Bundesrepu­blik

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