Die gefährlichen Nachbarn der EU
Konflikte. Die EU steht vor neuen Herausforderungen in der Nachbarschaftspolitik. Die Zahl der Konflikte steigt, die Anzahl der potenziellen Flüchtlinge ebenso.
Wien/Brüssel. Rund um die EU entstehen immer neue – teilweise militärisch ausgetragene – Konflikte. Sie bedrohen nicht nur die Randregionen der Gemeinschaft, sondern könnten auch neue Migrationswellen in die wohlhabenderen Mitgliedstaaten auslösen. Rund 20 Millionen Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge warten laut EUKommission in den Nachbarländern der EU auf ihre Chance für eine bessere Zukunft.
Der für die Nachbarschaftspolitik zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn fordert im Gespräch mit der „Presse“, mehr gemeinsame außenpolitische Kompetenzen bis hin zu militärischen Optionen, um diesen Gefahren entgegenzutreten: „In einer globalisierten, dynamischen Welt kann man nicht immer nur reagieren, sondern muss man auch agieren. Wir hätten auf die Migrationskrise ganz anders reagiert, wenn es da eine europäische Kompetenz gegeben hätte. Vor diesem Hintergrund werden wir eine Sicherheitskomponente aufbauen müssen, die auch einen militärischen Arm haben sollte.“ Pulverfass Nordafrika Die Machtkämpfe nach dem Arabischen Frühling sind nicht abgeschlossen. In einem der wichtigsten Transitländer für Migranten in Richtung Europa, in Libyen, droht die Lage zu eskalieren. Mehrere Milizen kämpfen um die Vorherrschaft. Die Kooperation der EU mit der international anerkannten Regierung in Tripolis in der Flüchtlingsfrage ist fragil. Migranten versuchen zudem verstärkt, über das Nachbarland Tunesien nach Europa zu gelangen. Zwar hat sich hier eine demokratische Regierung etabliert. Kommunalwahlen mussten aber zuletzt wegen interner Machtkämpfe aufgeschoben werden. Auch in Algerien und Marokko kam es zuletzt immer öfter zu Protesten gegen die Regierungen. Die UN-Migrationsagentur IOM warnt davor, dass sich diese Länder von Durchgangs- zu Zielländern für Migranten aus der Region südlich der Sahara entwickeln. Dies sorge bereits für wachsende soziale Spannungen. Die wirtschaftlichen Aussichten in der Region haben sich kaum verbessert. In Ägypten sorgt die Führung des Militärs zwar derzeit für Ruhe, aber die Rückkehr zur Demokratie ist ausständig. Außerdem ist die Bevölkerungsentwicklung besorgniserregend. Pro Jahr wächst die Einwohnerzahl um zwei Millionen Menschen, für die es im Inland keine ausreichenden Perspektiven gibt. Herausforderung Nahost Der blutige Bürgerkrieg in Syrien ist trotz der Erfolge gegen den IS nicht beendet. Er hat sich mit der Parteinahme durch Russland und die USA sowie mit der Involvierung von Großbritannien, Frankreich und der Türkei zu einem internationalen Konflikt ausgeweitet. Fünf Millionen Syrer sind mittlerweile auf der Flucht. Knapp eine Million hat bereits in Europa um Asyl angesucht. In der Region selbst – vorwiegend in Jordanien und im Libanon sind 1,6 Millionen weitere Flüchtlinge untergekommen. Ihnen fehlt es aber oft an der notwendigen Versorgung, weil internationale Hilfe ausbleibt. In Palästina hat die jüngste Versöhnung von Hamas und Fatah zwar Hoffnungen auf eine friedliche Lösung des seit Jahrzehnten andauernden Nahostkonflikts geschürt. Tatsächlich liegt die Aussöhnung mit Israel aber in weiter Ferne. Neue militärische Eskalationen sind auch hier nicht ausgeschlossen. Unsicherheitsfaktor Türkei Seit dem Putschversuch im Sommer 2016 hat sich die Lage in der Türkei deutlich verschärft. Das willkürliche Vorgehen der Regierung unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan˘ gegen jegliche Oppositionskräfte sorgt für zunehmende Spannungen. Auch die Autonomiebestrebungen der Kurden drohen neue gewaltsame Konflikte im Land und seinen Nachbarregionen auszulösen. In der Türkei leben noch immer 3,2 Millionen syrische Flüchtlinge. Konfliktherd Ukraine Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ist zwar eingefroren, bedroht aber weiterhin den Frieden in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU. Das Land selbst konnte sich bisher nicht ausreichend reformieren. Die Zurückdrängung der Oligarchen stockt, dazu kommen wachsende Staatsschulden und eine marode Wirtschaft. Die Ukraine verzeichnet 1,8 Millionen Binnenflüchtlinge aus der Krim und dem Osten des Landes, die untergebracht und versorgt werden müssen. Trotz internationaler Bemühungen ist eine nachhaltige Lösung des Konflikts nicht in Aussicht. Im Fall einer neuen militärischen Konfrontation werden Fluchtwellen in den Westen nicht ausgeschlossen. Mehr zum Thema: Europa vertiefen, S. I– VIII