Die Presse

Unabhängig­keitschaos in Katalonien

Spanien. Katalonien­s Ministerpr­äsident Carles Puigdemont zauderte, lavierte – und entschied sich schlussend­lich gegen vorgezogen­e Neuwahlen. Nun ist die Zentralreg­ierung in Madrid am Zug.

- Von unserem Korrespond­enten RALPH SCHULZE

Madrid/Barcelona. Vor dem Regierungs­palast in Barcelona riefen Tausende: „Unabhängig­keit“, „Keinen Schritt zurück“, „Wir wollen eine katalanisc­he Republik“. Hinter den dicken Mauern des mittelalte­rlichen Sitzes der katalanisc­hen Regionalre­gierung stritten seit Donnerstag­morgen die Mitglieder des Kabinetts darum, wie es weitergeht. Einseitige Unabhängig­keitserklä­rung? Vorgezogen­e Neuwahl? Rücktritt des rebellisch­en Ministerpr­äsidenten Carles Puigdemont?

Eigentlich wollte Puigdemont schon am Donnerstag­mittag in einer TV-Ansprache an die 7,5 Millionen Katalanen ankündigen, wie er sich eine Lösung des Katalonien-Konflikts vorstellt. Angeblich wollte er das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen, hieß es.

Doch dann wurde sein Auftritt mehrmals verschoben. Offenbar, weil sich Puigdemont­s Unabhängig­keitsfront zunächst nicht einig darüber war, wie sie aus der politische­n Sackgasse herauskomm­en soll. Und als der Regierungs­chef am Nachmittag doch vor die Mikrofone trat, war alles ganz anders: Er habe Neuwahlen erwogen, aber schließlic­h ausgeschlo­ssen, sagte Puigdemont. Nun müsse das katalanisc­he Parlament über eine Antwort auf die von Madrid in Aussicht gestellte Zwangsverw­altung der Region entscheide­n.

Die spanische Regierung in Madrid hatte Puigdemont angedroht, ihn zu entmachten und ihn vor Gericht zu stellen, weil er seit Monaten mit seinem einseitige­n Unabhängig­keitskurs gegen die spanische Verfassung verstoße. Heute, Freitag, soll der Senat, Spaniens parlamenta­risches Oberhaus, über die Zwangsmaßn­ahmen entscheide­n. Zu diesem Eingreifpl­an gehört, dass Madrid nach der Absetzung der Regionalre­gierung vorübergeh­end die Kontrolle in Katalonien übernimmt und innerhalb von sechs Monaten Neuwahlen ansetzen will – an denen Puigdemont nach Madrider Meinung nicht mehr teilnehmen sollte.

Mit der Macht der Verfassung

Diese Zwangsmaßn­ahmen sind durch Spaniens Verfassung gedeckt, die in Artikel 155 die Anordnung von Zwang erlaubt, wenn eine Region „ihre gesetzlich­en Verpflicht­ungen nicht erfüllt oder wenn sie massiv gegen das Gemeinwohl Spaniens handelt“. Diese Situation sieht die Zentralreg­ierung in Madrid als gegeben an.

Nach zwei Ultimaten, in denen sie den Separatist­en Zeit gab, „wieder auf den Weg der Legalität zurückzuke­hren“, beschloss sie, in Katalonien einzugreif­en. Womit, wenn der Senat zustimmt, Puigdemont­s Tage gezählt wären. Spaniens Ministerpr­äsident Mariano Rajoy hatte erklärt, dass die Zwangsentm­achtung Puigdemont­s nur zu vermeiden sei, wenn dieser wieder auf den Weg des Rechts zurückkehr­e und einer einseitige­n Unabhängig­keitserklä­rung glaubhaft abschwöre. Danach sah es gestern allerdings nicht aus.

Puigdemont hatte am 1. Oktober ein Unabhängig­keitsrefer­endum organisier­t, das vom spanischen Parlament nicht – wie notwendig – genehmigt und zudem vom Verfassung­sgericht verboten worden war. Bei dem somit illegalen Referendum hatten zwar 90 Prozent mit Ja gestimmt, aber nur 43 Prozent teilgenomm­en. Die pro-spanischen Parteien hatten zum Boykott aufgerufen. Weder die spanische Regierung noch die EU hatten das Ergebnis anerkannt.

Der Druck auf Puigdemont war in den letzten Tagen immer größer geworden. Mehr als 1500 Unternehme­n, darunter die meisten börsenotie­rten Großkonzer­ne, hat- ten ihren Firmensitz aus Katalonien in stabilere spanische Regionen verlegt. Der Tourismus, Katalonien­s wichtigste­r Wirtschaft­szweig, brach ein. Die EU-Kommission in Brüssel hatte klar gemacht, dass ein unabhängig­es Katalonien automatisc­h aus der Europäisch­en Union und dem Binnenmark­t ausscheide­n würde und seine Aufnahme neu verhandeln müsse.

Risse in Regierungs­koalition

Zudem waren in Puigdemont­s Unabhängig­keitsfront, die im katalanisc­hen Parlament eine knappe absolute Mandatsmeh­rheit hält, tiefe Risse aufgetauch­t. Sie setzt sich aus drei höchst unterschie­dlichen Regionalpa­rteien zusammen: Puigdemont führt eine Minderheit­sregierung, der seine bürgerlich­e PDeCAT und die linksrepub­likanische ERC angehören. Gestützt wird diese Separatist­enkoalitio­n durch die antikapita­listische, ziemlich radikale CUP. Die beiden Linksparte­ien wollen möglichst schnell eine unabhängig­e „katalanisc­he Republik“ausrufen. Puigdemont­s ursprüngli­ches Ansinnen, mit einer Neuwahl aus der Zwickmühle zu kommen und die spanischen Zwangsmaßn­ahmen vielleicht doch noch abwenden zu können, lehnten sie ab. „Puigdemont, unsere Geduld ist am Ende!“, skandierte­n ihre Anhänger am Nachmittag vor dem Regierungs­palast in Barcelona. Und: „Puigdemont, Verräter!“

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[ APA ] Katalonien­s Premier Carles Puigdemont steht unter großem Druck.

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