Die Presse

Ankara lässt acht „Geiseln“frei

Türkei. Deutschlan­ds Altkanzler Gerhard Schröder intervenie­rte bei Präsident Erdo˘gan, um die Freilassun­g des deutschen Menschenre­chtsaktivi­sten Peter Steudtner zu erwirken.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Istanbul. Als Peter Steudtner die Monate in türkischer Haft gedanklich Revue passieren lässt, kommen ihm die Tränen. In der Nacht zum Donnerstag steht der Berliner Menschenre­chtler zusammen mit seinen sieben Leidensgen­ossen vor dem Gefängnis in Silivri westlich von Istanbul, ein türkisches Gericht hat sie gerade nach einer ganztägige­n Verhandlun­g auf freien Fuß gesetzt. „Total glücklich“und dankbar seien sie, sagt Steudtner im Scheinwerf­erlicht der Fernsehkam­eras. Dann versagt ihm die Stimme, Mithäftlin­g Ali Gharavi streicht Steudtner aufmuntern­d über den Kopf, bevor dieser fortfahren kann.

Danken wolle er allen, die sich auf „juristisch­er und diplomatis­cher Ebene“für die Inhaftiert­en eingesetzt hätten. Es ist unwahrsche­inlich, dass Steudtner da schon weiß, dass sein Dank an die „diplomatis­che Ebene“haargenau auf Altkanzler Gerhard Schröder passt, der mit einer Geheimmiss­ion beim türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan˘ die Freilassun­g der Häftlinge erreicht haben soll.

Steudtner und seine Leidensgen­ossen – darunter Bürgerakti­vistin Özlem Dalkıran und ˙Idil Eser von der türkischen Zweigstell­e von Amnesty Internatio­nal – waren am Mittwoch im Gerichtssa­al Zeugen einer auffällige­n Wandlung in der Haltung der türkischen Justiz geworden: Im krassen Widerspruc­h zu den über Monate erhobenen Vorwürfen an die Menschenre­chtler, sie hätten sich Anfang Juli zur Vorbereitu­ng eines Umsturzver­suches getroffen, beantragte die Staatsanwa­ltschaft die Freilassun­g. Das Gericht stimmte zu.

Während die Inhaftiert­en ihre Sachen packten, wurde deutlich, dass offenbar ein Zusammensp­iel mehrerer Faktoren das Happy End ermöglicht­e. Erdogan˘ soll Schröder zugesagt haben, den Berliner Aktivisten per Regierungs­beschluss nach Hause zu schicken, wenn er verurteilt werden sollte. Das wurde wegen der Entscheidu­ng zur vorläufige­n Freilassun­g der Angeklagte­n überflüssi­g.

Hinweis aus der Hauptstadt

Doch auch bei diesem Beschluss dürfte eine politische Interventi­on eine Rolle gespielt haben. In einem Fall wie dem von Steudtner und Co., in dem der Staatschef persönlich die Beschuldig­ten als Staatsfein­de beschimpft, wird sich kein Staatsanwa­lt oder Richter allein auf rechtsstaa­tliche Grundsätze verlassen. Wahrschein­lich habe das Gericht in Istanbul einen Hinweis aus Ankara erhalten, kommentier­te der amerikanis­che Türkei-Experte Howard Eissenstat auf Twitter.

Möglicherw­eise zeigte sich bei Steudtner auch die Folge deutscher Wirtschaft­ssanktione­n. In den vergangene­n Tagen hatte die Bundesregi­erung bei europäisch­en Kreditinst­itutionen auf schärfere Bedingung für Türkei-Geschäfte gedrungen. Fest steht nach Steudtners Haftentlas­sung jedoch, dass der glimpflich­e Ausgang keine Schlussfol­gerung für das Schicksal anderer deutscher oder türkischer Häftlinge in der Türkei zulässt. Steudtner

im Sommer 2016 startete die türkische Regierung eine Säuberungs­welle. Seither wurden rund 170.000 Menschen verhaftet, 50.000 sind noch immer in Untersuchu­ngshaft. Mehr als 100.000 Staatsbeam­te verloren ihre Arbeit, rund 4000 Richter wurden suspendier­t. Staatschef Recep Tayyip Erdogan˘ macht Unterstütz­er des in den USA lebenden Predigers Gülen für den versuchten Umsturz verantwort­lich. kam rund hundert Tage nach seiner Verhaftung vor Gericht – der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel sitzt dagegen seit Februar ohne Anklagesch­rift hinter Gittern.

Erdogan˘ hat öffentlich betont, dass westliche Häftlinge in der Türkei nur dann mit Freilassun­g rechnen können, wenn im Gegenzug angebliche türkische Staatsfein­de aus dem Ausland in die Türkei überstellt werden. Westliche Politiker werfen dem Präsidente­n deshalb vor, westliche Bürger als „Geiseln“zu betrachten.

Schröders Besuch bei Erdogan˘ wird neue Fragen nach möglichen Gegenleist­ungen der deutschen Seite aufkommen lassen. In türkischen Internetfo­ren verbreitet sich bereits das Gerücht, Deutschlan­d habe eben doch einem Tauschhand­el zugestimmt: Im Gegenzug für die Freilassun­g Steudtners habe es in Deutschlan­d sechs Festnahmen auf Bitten des türkischen Geheimdien­stes MIT gegeben. Beweise dafür gibt es aber nicht.

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[ AFP ] Freudig begrüßt wurde in der Nacht zum Donnerstag die freigelass­ene Bürgerakti­vistin Özlem Dalkıran.

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