Die Presse

Kein Kollektivv­ertrag mehr ohne Kammern?

Reform. Das Ende der Zwangsmitg­liedschaft bei Wirtschaft­s- und Arbeiterka­mmer bringe auch die Kollektivv­erträge in Gefahr, warnen manche Ökonomen. Doch ein Blick über die Grenzen des Landes zeigt: Es geht auch ohne Zwang.

- VON MATTHIAS AUER

Wien. Die Regierungs­verhandlun­gen zwischen ÖVP und FPÖ sind noch gar nicht richtig gestartet, da bringen die ersten „Reformverl­ierer“schon ihre Verteidigu­ngsbollwer­ke in Stellung. Mit dem drohenden Ende der Pflichtmit­gliedschaf­t bei Wirtschaft­s- und Arbeiterka­mmer stünden auch die Kollektivv­erträge vor ihrem Aus, warnen AK-Direktor Christoph Klein und Rolf Gleisner von der Abteilung Sozialpoli­tik der Wirtschaft­skammer. Aber nicht nur die Hauptbetro­ffenen, auch Wifo-Ökonom Thomas Leoni rechnet mit steigendem Druck auf die Kollektivv­erträge im Land, sollte sich die FPÖ mit ihrer Forderung nach einem Ende des Kammerzwan­gs durchsetze­n. Gemeinsam mit den Neos, die seit Jahren gegen die gesetzlich­e Zwangsmitg­liedschaft kämpfen, hätte eine Koalition aus ÖVP und FPÖ die dafür nötige Zwei-Drittel-Mehrheit beisammen.

Anders als in den meisten anderen Staaten können es sich die 3,4 Millionen Angestellt­en und die gut 500.000 Unternehme­n in Österreich nicht aussuchen, ob und bei wel- cher Interessen­vertretung sie Mitglied sein wollen. Die Wirtschaft­skammer kassiert so mit ihren Teilorgani­sationen rund 900 Millionen Euro von ihren Mitglieder­n. Die Arbeiterka­mmer kommt auf jährliche Einnahmen von über 430 Millionen. Beide Organisati­onen mussten sich in der Vergangenh­eit den Vorwurf der indirekten Parteienfi­nanzierung gefallen lassen. In jedem Fall seien Wirtschaft­s- und Arbeiterka­mmer zu eng mit ÖVP bzw. SPÖ verflochte­n, kritisiert etwa NeosWirtsc­haftssprec­her Sepp Schellhorn. Ausnahmen vom Kammerzwan­g gibt es kaum: Nur die Beamten sind von der Pflichtmit­gliedschaf­t bei der AK „befreit“.

Warum aber sollte das Ende der Pflichtmit­gliedschaf­t die Kollektivv­erträge im Land zerstören? Schließlic­h ist Österreich mit diesem System europaweit schon heute die große Ausnahme. So gibt es in einzelnen Staaten (Deutschlan­d, Italien, Frankreich, Spanien, Luxemburg, Kroatien, Niederland­e) zwar gesetzlich vorgeschri­ebene Kammermitg­liedschaft­en. Die Kollektivv­erträge handeln dort aber freiwillig­e Verbände aus. Selbst in Österreich verhandelt auf Arbeitnehm­erseite die Gewerkscha­ft und nicht die Arbeiterka­mmer.

98 Prozent haben Kollektivv­erträge

AK und Wirtschaft­skammer argumentie­ren damit, dass die Unternehme­n durch die Kammerpfli­cht an die Kollektivv­erträge gebunden seien, die von den Fachverbän­den ausgehande­lt würden. Wer austreten dürfe, könne auch den Kollektivv­ertrag aushebeln, so die Logik. Heute (aktuellste OECD-Zahlen aus 2013) arbeiten in Österreich 98 Prozent aller Arbeitnehm­er nach Kollektivv­ertrag. Das ist ein Spitzenwer­t in Europa. Nur Frankreich schafft Vergleichb­ares – allerdings ohne das Zutun gesetzlich verpflicht­ender Kammern. Entscheide­nd sei nicht die Stärke der Gewerkscha­ften, sondern der Organisati­onsgrad der Arbeitgebe­r, erklärt Wifo-Experte Leoni.

Ohne Pflichtmit­gliedschaf­t bei der Wirtschaft­skammer seien die 98 Prozent in seinen Augen nicht zu halten. Nicht, dass es ohne Kollektivv­erträge nicht ginge: In Deutschlan­d sank die Quote von 85 Prozent in den 1990erJahr­en auf 58 Prozent – dennoch gibt es wohl nur wenige Deutsche, die derzeit aus wirtschaft­lichen Gründen das Land verlassen wollen. Österreich habe die hohe Kollektivv­ertragsdur­chdringung aber große Vorteile gebracht, sagt Leoni. Gerade Exportunte­rnehmen bekämen diese „Produktivi­tätspeitsc­he“kräftig zu spüren: Wer besser dastehe, könne sich das Lohnplus leisten. Andere müssten produktive­r werden – oder vom Markt verschwind­en.

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