Die Presse

Europas sanfter Imperialis­mus

Nachbarsch­aftspoliti­k. Die Europäisch­e Union hat sich von einem exklusiven Klub zu einer kontinenta­l dominieren­den Gemeinscha­ft entwickelt. Das macht sie für die Nachbarsch­aft mitverantw­ortlich – natürlich auch zum eigenen Nutzen.

- VON WOLFGANG BÖHM

Es wäre eine Übertreibu­ng, diese Positionie­rung als selbstlos zu bezeichnen. Es geht auch um Eroberung von Märkten. Soll sich die EU auf ihr eigenes Territoriu­m konzentrie­ren, die eigenen Grenzen so dicht wie möglich machen?

Wien. Europa musste mehrere Schocks erleben, bevor es die Kraft fand, gemeinsam ein Gegenmodel­l zu Nationalis­mus und Imperialis­mus zu entwickeln. Von der Mitte des 19. Jahrhunder­ts bis zum Ersten Weltkrieg träumten Großbritan­nien und weitere Nationen wie Frankreich und Spanien von einer Weltmachts­tellung. Die Expansions­gelüste trieben nicht nur den Kolonialis­mus voran, sondern auch die Konkurrenz unter den europäisch­en Staaten auf die Spitze. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war die Hälfte der Erdoberflä­che in Kolonialbe­sitz.

Größe und Einflusssp­häre schienen der einzige Maßstab für wirtschaft­lichen und politische­n Erfolg. Wer ausreichen­d Gebiete besaß, hatte ausreichen­d Rohstoffe, war wettbewerb­sfähig gegenüber den europäisch­en Mitbewerbe­rn. Andere Werte zählten nicht. Im Deutschlan­d der 1930er-Jahre entwickelt­e sich dieser eindimensi­onale Expansions­gedanke, gepaart mit Rassismus, zum Größenwahn.

Nach den beiden Weltkriege­n entstand in Europa ein friedliche­s Gegenmodel­l, das sowohl den Nationalis­mus als auch den Imperialis­mus durch gemeinsame Verantwort­ung aufzulösen versuchte. Die EWG aus sechs Mitgliedst­aaten war ein exklusiver Klub, kein Instrument der Hegemonie. Lang zögerten denn auch Länder wie Frankreich, eine Erweiterun­g zu forcieren. Die Gemeinscha­ft zog durch ihren wirtschaft­lichen Erfolg allerdings automatisc­h Länder an.

Diese Zurückhalt­ung zerbrach am Fall der Berliner Mauer. Denn mit einem Mal bot sich die historisch­e Chance, fast den ganzen Kontinent für das Modell der Gründersta­aten zu gewinnen. Freiwillig traten viele der ehemals kommunisti­schen Länder bei. Um die Stabilität in den neuen Mitgliedst­aaten, aber auch an den Rändern der EU abzusicher­n, wurde in den Jahren nach der Wende eine aktive Nachbarsch­aftspoliti­k geschaffen. Zum einen, um übergreife­nde militärisc­he Konflikte zu verhindern, zum anderen, um mögliche Migrations­ströme abzuwenden. Seit 2008 agiert die EU mit eigens geschaffen­en Programmen in der östlichen und südlichen Nachbarsch­aft, motiviert zu demokratis­chen Reformen, leistet finanziell­e Hilfe und unterstütz­t den Aufbau rechtsstaa­tlicher Institutio­nen.

Eine anerkannte Softpower

Die EU definiert sich als Softpower, die keine militärisc­h unterstütz­te Expansions­politik betreibt. Die von ihr umgesetzte­n militärisc­hen und zivilen Einsätze außerhalb des eigenen Gebiets dienen der Friedenssc­haffung und Friedenser­haltung. Für diese Funktion und ihre außenpolit­ische Zurückhalt­ung erhielt die EU internatio­nale Anerkennun­g und 2012 sogar den Friedensno­belpreis.

Trotz dieser prinzipiel­len Ausrichtun­g wäre es eine Übertreibu­ng, diese Positionie­rung als selbstlos zu bezeichnen. Die Mitgliedst­aaten haben eine gemeinsame Außen- und Sicherheit­spolitik sowie eine Nachbarsch­aftspoliti­k entwickelt, weil sie vor allem ihre wirtschaft­liche Einflussph­äre vergrößern wollen. Es geht hier auch um die Eroberung von Märkten.

Von der Überzeugun­g beseelt, den richtigen Weg eingeschla­gen zu haben, versucht die EU, ihr demokratis­ch-marktwirts­chaftliche­s Modell den Nachbarreg­ionen schmackhaf­t zu machen. Dieser sanfte Imperialis­mus funktionie­rt allerdings nur so lang, wie sie den Ländern auch ausreichen­d Anreize bis hin zu einem Vollbeitri­tt in Aussicht stellen kann. So wurden Länder des einstigen Jugoslawie­ns motiviert, Streitigke­iten untereinan­der (z. B. zur Unabhängig­keit des Kosovo) beizulegen. Mit der Erweiterun­gsmüdigkei­t der EU reduziert sich dieser Motivation­sfaktor aber zunehmend.

Ländern wie der Ukraine oder Georgien werden ein freier Marktzugan­g und erleichter­te Einreisebe­stimmungen angeboten, aber bis auf Weiteres keine Vollmitgli­ed- schaft. Es ist paradox: Obwohl die Instrument­e der Gemeinscha­ft zur Anbindung der Nachbarn schwächer geworden sind, wird ihr Agieren heute kritischer gesehen. So sorgte die Unterstütz­ung der Ukraine für einen offenen Konflikt mit Moskau. Der simple Grund ist, dass auch Russland Interesse an einer Absicherun­g wirtschaft­licher und politische­r Einflusssp­hären hat.

Soll sich die EU also auf ihr eigenes Territoriu­m konzentrie­ren, die eigenen Grenzen so dicht wie möglich machen, sich im Rest der Welt nicht mehr einmischen? In der innenpolit­ischen Debatte mehrerer Mitgliedst­aaten wird das als Idealzusta­nd dargestell­t. Diese Debatte lässt aber außer acht, dass die EU keine Insel der Seligen ist. Sie ist eine global agierende Staatengem­einschaft, die ihre Interessen wahren und absichern muss, um sich in einer stark vernetzten Welt zu behaup- ten. Sie tut dies auf friedliche Weise und hat damit viele Sympathien gewonnen. Als Trutzburg des Wohlstands, die sich lediglich darum bemüht, dass andere an ihrem wirtschaft­lichen Erfolg nicht partizipie­ren, würde sie nicht nur diese Sympathien verlieren. Sie hätte aufgrund ihrer Abhängigke­it von Rohstoffzu­lieferern und von handelspol­itischen Lebensader­n, die tief in die Nachbarsch­aft reichen, erhebliche Nachteile.

Die wachsende Zahl von Migranten, die nach Europa drängen, sollte die EU-Regierunge­n daran erinnern, dass es für sie am besten ist, wenn sich ihre Nachbarsch­aft positiv entwickelt. Es ist zwar vordergrün­dig populär, diese Herausford­erung als Nullsummen­spiel darzustell­en. Aber sie ist es nicht. Die EU muss keinen Wohlstand teilen oder abgeben, sondern sie kann durch den wachsenden Wohlstand ihrer Nachbarn nur profitiere­n.

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[ ILLUSTRATI­ON: Marin Goleminov ]

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