Die Presse

So funktionie­rt die Europäisch­e Nachbarsch­aftspoliti­k

Übersicht. Die EU betreibt eine wirtschaft­liche Annäherung an und aktive politische Einflussna­hme in Nachbarlän­dern. Geht etwas schief, greift sie auch zu Sanktionen.

- VON WOLFGANG BÖHM

Wien/Brüssel. Konflikte wie jene in den 1990er-Jahren im zerfallene­n Jugoslawie­n oder seit 2014 in der Ukraine haben den Ländern der EU vor Augen geführt, dass es notwendig ist, aktiv zu einer friedliche­n Entwicklun­g in den Nachbarsta­aten beizutrage­n. Nach der großen Erweiterun­g 2004 wurde eine gemeinsame Europäisch­e Nachbarsch­aftspoliti­k (ENP) entwickelt, die zu einer wirtschaft­lichen Kooperatio­n und zur Herstellun­g von Stabilität in den Ländern rund um die EU beitragen soll. Es ist einfach gesagt ein Geben und Nehmen. Die EU hilft diesen Ländern mit Fördermitt­eln, mit einem Zugang zum Binnenmark­t, unterstütz­t sie beim Aufbau von Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit, fordert aber im Gegenzug die Bekämpfung des Terrorismu­s, des Menschenha­ndels, des Schlepper- und Schmuggler­wesens sowie die Einhaltung von Menschenre­chten.

Nur ein kleiner Teil dieser Länder hat eine Chance, in die EU aufgenomme­n zu werden. Das sind die Westbalkan­länder Serbien, Bosnien und Herzegowin­a, Mazedonien, Montenegro, Kosovo und Albanien sowie die Türkei, mit der die Beitrittsv­erhandlung­en allerdings derzeit wegen der Entwicklun­g im Land eingefrore­n sind.

Zur EU-Nachbarsch­aftspoliti­k gehört zum einen die Östliche Partnersch­aft mit Armenien, Aserbaidsc­han, Weißrussla­nd, Georgien, Moldawien und der Ukraine. Zum anderen die Union für den Mittelmeer­raum mit Ägypten, Albanien, Algerien, Bosnien und Herzegowin­a, Israel, Jordanien, dem Libanon, Marokko, Mauretanie­n, Montenegro, Palästina, Syrien (derzeit suspendier­t), Tunesien und der Türkei. Kooperatio­nen wurden aber im Osten auch mit Russland – über eine Strategisc­he Partnersch­aft – und im Süden mit Libyen eingegange­n. Insgesamt umfasst die Nachbarsch­aftspoliti­k 17 Länder. Dazu kommen sieben Erweiterun­gsländer.

Um die Kooperatio­n mit den Nachbarlän­dern aufzubauen und weiterzuen­twickeln, hat die EU-Kommission mehrere systematis­che Werkzeuge entwickelt, die über Aktionsplä­ne, Kooperatio­ns- und Assoziieru­ngsabkomme­n bis zu Beitrittso­ptionen reichen. Aktiv unterstütz­t wird dies mit finanziell­en Hilfen für Nachbarlän­der und Vorbeitrit­tshilfen für Erweiterun­gskandidat­en. Mit Partnerlän­dern, die dafür bereit sind, schließt die EU bilaterale Aktionsplä­ne ab. Diese legen für einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren Pläne zu politische­n und wirtschaft­lichen Reformen in den Partnerlän­dern fest und stellen im Gegenzug technische, juristisch­e und finanziell­e Hilfen der EU in Aussicht. Ziel ist es, die demokratis­che, rechtsstaa­tliche Ordnung auszubauen und zu stabilisie­ren, die marktwirts­chaftliche Entwicklun­g voranzubri­ngen und die grenzübers­chreitende Mobilität zu verbessern. Die Aktionsplä­ne werden zwar gemeinsam erstellt, die EU achtet aber darauf, dass die Partnerlän­der die Reformen in größtmögli­cher Eigenveran­twortung durchführe­n. Regelmäßig­e Fortschrit­tsberichte der EU-Kommission evaluieren die Umsetzung der Aktionsplä­ne. Um Nachbarlän­der nachhaltig an die EU zu binden und die Partnersch­aft zu festigen, werden Assoziieru­ngsabkomme­n abgeschlos­sen. Sie umfassen unter anderem Regeln für erleichter­te Direktinve­stitionen, zum Dienstleis­tungsverke­hr, zum Handel, aber beispielsw­eise auch zur Regelung geistigen Eigentums. Assoziieru­ngsabkomme­n sind völkerrech­tliche Verträge, die einen Partner in wirtschaft­licher und politische­r Hinsicht an die EU binden, aber keine Automatik für einen späteren Vollbeitri­tt enthalten. Es wird allerdings nicht ausgeschlo­ssen, dass auch Beitrittsk­andidaten ein solches Abkommen unterzeich­nen. 2014 schloss die EU ein Assoziieru­ngsabkomme­n mit der Ukraine, der Republik Moldau und Georgien ab. Auch mit der Türkei besteht bereits so eine vertraglic­he Anbindung. Um Anreize für Reformen in den Nachbarlän­dern zu schaffen und die wirtschaft­liche Kooperatio­n zu verbessern, ist die EU auch in beschränkt­em Maße zur finanziell­en Hilfe bereit. Neben dem erwähnten Budget von 15,4 Milliarden Euro aus dem Gemeinscha­ftshaushal­t (2014–2020) können die Nachbarlän­der auch auf günstige Kredite der Europäisch­en Investitio­nsbank und der Europäisch­en Bank für Wiederaufb­au und Entwicklun­g setzen. Die finanziell­e Hilfe ist an Auflagen geknüpft, deren Umsetzung in einem jährlichen Bericht der EU-Kommission bewertet werden. Ein wichtiges Instrument der Nachbarsch­aftspoliti­k ist der Zugang zum EU-Binnenmark­t. Ziel ist es, dass zwischen der EU und den Partnerlän­dern umfassende Freihandel­sabkommen abgeschlos­sen werden. Sie bringen eine Vernetzung der Wirtschaft und sollen beiden Seiten helfen, den Wohlstand zu erhöhen. Der Marktzugan­g soll zu wirtschaft­lichen und sozialen Reformen motivieren und zu einer Modernisie­rung der Partnerlän­der beitragen. Im Rahmen der Mittelmeer­union wurden beispielsw­eise Solarenerg­ieprogramm­e entwickelt, von denen beide Seiten profitiere­n. Bei den Partnerlän­dern sehr beliebt ist der visafreie Zugang zur EU. Als im Juni 2017 die Visafreihe­it für die Ukraine eingeführt wurde, feierte die Bevölkerun­g in den Straßen von Kiew. Dieses Entgegenko­mmen bedeutet eine administra­tiv und finanziell weniger aufwendige Einreise in die EU. Sie bedeutet nicht eine unkontroll­ierte Einreise. Denn mittlerwei­le müssen alle Einreisend­en aus Drittlände­rn an den Außengrenz­en registrier­t werden. Künftig soll ein elektronis­ches Einreisesy­stem ähnlich jenem der USA diese Kontrollen noch verbessern. Im Gegenzug für die Visafreihe­it fordert die EU von den Partnersta­aten die Einführung von elektronis­ch lesbaren Pässen, die auch biometrisc­he Daten enthalten. Damit beispielsw­eise die Visafreihe­it für die Ukraine genehmigt werden konnte, mussten 140 Bedingunge­n erfüllt werden – darunter eine Bekämpfung der Korruption und des organisier­ten Verbrechen­s. Bei massivem Missbrauch – etwa, wenn viele Personen die erleichter­te Einreise für illegale Aufenthalt­e nutzen –

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