Die Presse

Gibt es Grenzen der EU-Erweiterun­g?

Beitrittsk­andidaten. Mit den Nachfolges­taaten Jugoslawie­ns und Albanien hat die EU eine klaffende Lücke. Nach einer Erweiterun­g der Union um die Westbalkan­länder wären weitere Beitritte nicht mehr zwingend.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Wien. „Europa endlos“lautet der Titel eines Songs aus dem Repertoire der deutschen Elektropop-Pioniere Kraftwerk. Dieses Musikstück ist nicht so abgehoben von der Wirklichke­it, wie es den Anschein haben könnte – zumindest in europapoli­tischer Hinsicht sind die Grenzen des Kontinents relativ fließend. Dass die Türkei zum Kreis der EU-Beitrittsk­andidaten zählt, hat wenig mit der Geografie und viel mit der Realpoliti­k zu tun. Auch die Frage, inwieweit die Partnerlän­der der Union am Kaukasus zum Europaklub dazugehöre­n, lässt sich nicht eindeutig beantworte­n. Umgekehrt sind die historisch­en Bande zwischen der Ukraine und Europa eindeutig, während die gefühlte Zugehörigk­eit für zumindest einen Teil der ukrainisch­en Bürger eher in Richtung Eurasien, sprich Russland, tendiert.

Gibt es also Grenzen der Erweiterun­g? Sehr wohl. Doch sie sind nicht primär Geografie, Geschichte oder Kultur geschuldet, sondern der Realpoliti­k. Konkret geht es um zwei unausgespr­ochene Leitmotive. Erstens: Die EU-Bürger sind erweiterun­gsmüde und daher nicht mit Vorstößen zur Aufnahme neuer Mitglieder zu behelligen. Zweitens: Die Ausnahme von dieser Regel sind die Erweiterun­gskandidat­en auf dem Westbalkan. Dass die Stimmung in den Mitgliedst­aaten alles andere als erweiterun­gsfreundli­ch ist, hat sich mittlerwei­le auch in Brüssel herumgespr­ochen. Eine der ersten Ankündigun­gen von JeanClaude Juncker nach seinem Amtsantrit­t als EU-Kommission­spräsident Ende 2014 war ein De-facto-Erweiterun­gsstopp bis zur nächsten Europawahl 2019 – de facto, weil de iure die Einhaltung der Beitrittsk­riterien durch die Kandidaten­länder das Erweiterun­gstempo bestimmen sollte und nicht die innereurop­äische Stimmungsl­age.

Ukrainisch­er Pyrrhussie­g

Die Ansage ist zwar allgemein gehalten, betrifft aber primär zwei EU-Nachbarn: die Türkei und die Ukraine. Letzteres ist besonders bitter für jene ukrainisch­en Bürger, die im Kampf gegen die von oben angeordnet­e Annäherung ihres Landes an Russland ihr Leben riskiert haben. Zur Erinnerung: Auslöser des Konflikts Kiew–Moskau war der Sturz von Staatschef Viktor Janukowits­ch, der das akkordiert­e Freihandel­sabkommen mit der EU gegen den Willen der Bevölkerun­g stornieren wollte. In der Zwischenze­it ist der Pakt zwar in Kraft getreten, doch es ist ein Pyrrhussie­g, denn unter dem Eindruck russischer Vehemenz ist die EU vollends von der Idee abgerückt, die Ukraine weiter integriere­n zu wollen (siehe Seite XY). In der Türkei wiederum wird der Ent- fremdungsp­rozess von der Regierung in Ankara vorangetri­eben. Angesichts der autoritäre­n Tendenzen von Staatschef Recep Tayyip Erdogan˘ ist an raschen Verhandlun­gsfortschr­itt nicht zu denken.

Ein offizielle­r Abbruch der Verhandlun­gen steht momentan aber auch nicht auf der Agenda der EU – auch deshalb, weil Ankara als essenziell­er Partner bei der Abdichtung der EU-Außengrenz­e gesehen wird. Die einstige Vorstellun­g, die Türkei könne als moderner, weltoffene­r islamische­r Staat eine Vorbildwir­kung in der Region haben, ist jedenfalls dem Pessimismu­s gewichen – die Erfahrunge­n der vergangene­n Jahre haben das Klischeebi­ld der orientalis­chen Despotie wieder aufleben lassen.

Bleibt somit der Westbalkan – momentan im Wartesaal, aber längerfris­tig in der Pole-Position. Diese ist zunächst einmal den jahrelange­n europäisch­en (und österreich­ischen) Bemühungen geschuldet, aber vor allem der geografisc­hen Lage: Die Nachfolges­taaten Jugoslawie­ns sowie Albanien sind umgeben von EU-Mitglieder­n und somit eine Anomalie. Mit ihrer Aufnahme (deren Zeitpunkt allerdings von Reformbemü­hungen und politische­m Willen der Betroffene­n abhängt) würde die EU die letzte klaffende Lücke auf dem Kontinent schließen. Weitere Beitritte wären dann nicht mehr zwingend.

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