Die zunehmende Ermattung im Warteraum des Westbalkan
Erweiterung. Seit Ende der Jugoslawien-Kriege müht sich Brüssel, den Westbalkan mit der Verheißung des EU-Beitritts für Justiz- und Wirtschaftsreformen zu gewinnen. Doch der EU-Köder hat an Glanz verloren.
Klare Zeitangaben hatte Serbiens allgewaltiger Präsident Aleksander Vuciˇc´ noch im Juli in Sachen des ersehnten EUBeitritts gefordert. Sein Appell fand Gehör – allerdings nicht ganz in seinem Sinn. Während des Mandats der jetzigen EU-Kommission werde es „keine neuen Mitglieder“geben, stellte deren Präsident, Jean-Claude Juncker, Mitte September erneut klar. Stattdessen nannte er mit 2025 ein neues Zieldatum, an dem die EU 30 Mitglieder zählen könnte. Nüchtern kommentierte die serbische Zeitschrift „NIN“Junckers „deutliche“Botschaft: Falls Serbien bis 2025 nicht ins Ziel seines Beitrittsmarathons gelangen sollte, sei eine Mitgliedschaft wegen der EU-Finanzplanungen erst 2028 möglich.
Es ist ein sehr langer Hindernisparcours, auf dem die Staaten des sogenannten Westbalkan eher schlecht als recht in Richtung EU krebsen. Mehr als 14 Jahre sind mittlerweile seit dem sogenannten Versprechen von Thessaloniki vergangen. „Die Zukunft der westlichen Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union“, hatte die Abschlusserklärung des an der griechischen Ägäisküste abgehaltenen EU-Gipfels im Juni 2003 versichert – und damit Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro und Serbien ausdrücklich eine Beitrittsperspektive zugesichert.
Doch nur Kroatien sollte hernach 2012 der Beitritt zu Europas kriselnden Wohlstandsbündnis als 28. Mitglied noch gelingen. Die einstige Erweiterungseuphorie ist bei den Altmitgliedern nicht erst seit der britischen Entscheidung zum Brexit verflogen. Bei den verbliebenen Dauerpatienten im EU-Wartesaal macht sich derweil Ermattung breit. Der Beitrittsköder hat für viele Bewohner der Region angesichts der Entbehrungen einer scheinbar unendlichen Wirtschaftstransformation längst an Glanz verloren.
Vor zehn Jahren war beispielsweise das statistische Durchschnittseinkommen in Serbien genauso mager wie heute – knapp vierhundert Euro im Monat. Ein Wachstum von mindestens sechs Prozent wäre für die Kandidaten in der EU-Dauerwarteschleife nötig, um sich bis 2030 dem EU-Mittel anzunähern. Doch von einer Angleichung der Lebensverhältnisse sind diese unverändert weit entfernt. Im Gegenteil: Die Wohlstandskluft zwischen der EU und ihren Anwärtern hat sich eher vergrößert als verkleinert.
Auch um die von der EU gern propagierte Stärkung der Demokratie und des Rechtsstaats ist es düster bestellt. „Die Annäherung des Westbalkan an die EU hat bisher weniger gebracht als erhofft“, konstatiert Dusan Reljic´ von der renommierten Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er macht die hohe Arbeitslosigkeit, die zunehmende soziale Ungleichheit und die Verarmung der einstigen Mittelschicht in den Anwärterstaaten für deren Anfälligkeit für populistische Heilsbringer, Nationalismus und antieuropäische Strömungen verantwortlich: „Die jungen Menschen haben das Gefühl, schlechter zu leben als ihre Großeltern in der Zeit des sozialistischen Jugoslawien.“Auf eine EU-Zukunft im nächsten Leben mag kaum mehr jemand warten. Da die EU nicht kommt, wandern die besten Nachwuchskräfte aus ihrer als völlig perspektivlos empfundenen Heimat eben nach West- und Mitteleuropa aus. Nur die sich mehrende Zahl der eröffneten Kapitel bei den Beitrittsverhandlungen Montenegros und Serbiens nähren noch die Illusion, dass die von Korruption, Parteienund Vetternwirtschaft geplagten Anwärter dabei seien, sich das Rüstzeug für eine künftige EU-Zukunft anzueignen. Denn selbst wenn Gesetze nach EU-Vorgaben Serbien Montenegro Mazedonien verabschiedet sind, werden diese kaum mit Leben erfüllt.
Unvermindert pumpen die Regierungen die aufgeblasenen Verwaltungs- und Sicherheitsapparate mit eigenen Parteigängern auf – und halten die Medien des Landes weiter fest im Gängelgriff. So hat Serbien auf Drängen Brüssels per Gesetz zwar den Rückzug des Staates aus den Medien verfügt. Doch bei nationalen Staatsmedien macht Belgrad kaum Anstalten, die eigenen Vorgaben auch umzusetzen. Und privatisierte Staatsmedien in der Provinz werden über Strohmänner nun meist von der regierenden SNS kontrolliert.
Interesse nur in Krisenzeiten
Das diplomatisches Schulterklopfen mächtiger Freunde ist bei den Dauerwahlkämpfern in der Region immer gefragt. Solang sich das Streben in Richtung EU-Beitritt für den eigenen Machterhalt auszahlt, setzen selbst autoritär gestrickte Politiker entschlossen auf die europäische Karte – und flirten mit der Hoffnung auf neue Investoren und Kredite gleichzeitig mit Moskau, Ankara oder Peking.
Den EU-Partnern scheint das schleppende Tempo der Integration der verarmten Balkanbrüder aus innenpolitischen Gründen durchaus gelegen zu kommen. Nur bei drängenden Problemen wie der Flüchtlingskrise auf der Balkanroute weicht das latente Desinteresse in den EU-Hauptstädten kurzzeitigem Aktionismus. Brüssels Emissäre auf dem Westbalkan treten denn auch eher als einmal lobende, einmal tadelnde Grüß-Gott-Onkel denn als gestrenge Ausbilder für eine gemeinsame europäische Zukunft auf.