Die Presse

Ein schwierige­r Partner entfernt sich von europäisch­en Werten

Türkei. Der Annäherung­sprozess an die Europäisch­e Union dauert bereits knapp 60 Jahre. Doch Ankara ist heute von einem Beitritt weiter entfernt als je zuvor.

- VON ANNA GABRIEL

Wien. „Hoffnung ist das halbe Glück“, lautet ein bekanntes türkisches Sprichwort. Lang haben die EU-Entscheidu­ngsträger die Hoffnung auf eine Verbesseru­ng der Beziehunge­n zu Ankara nicht aufgegeben, wenngleich die Vorzeichen nie die besten waren. Ziel der EU-Erweiterun­gspolitik ist es bekannterm­aßen, Kandidaten­länder durch sanften Druck Schritt für Schritt näher an europäisch­e Werte heranzufüh­ren: Sei es bei der Rechtsstaa­tlichkeit, sei es bei Menschenre­chten oder der Pressefrei­heit. Im Fall der Türkei muss dieses Bestreben aus heutiger Sicht als gescheiter­t betrachtet werden. Ankara hat sich in den vergangene­n Jahren zusehends von wesentlich­en Grundsätze­n entfernt, die als Voraussetz­ung für jedes EU-Mitgliedsl­and gelten.

Es ist eine lange, von vielen Rückschläg­en gekennzeic­hnete Geschichte, die die Union mit ihrem wirtschaft­lich wie politisch so wichtigen Nachbarn verbindet: Der Annäherung­sprozess dauert bereits knappe 60 Jahre. Schon 1959 beantragte Ankara die Assoziieru­ng mit der damaligen Europäisch­en Wirtschaft­sgemeinsch­aft (EWG), die zwei Jahre zuvor von Belgien, Frankreich, den Niederland­en, Luxemburg, Italien sowie Deutschlan­d gegründet worden war.

Der erste große Rückschlag

Vier Jahre später wurde das sogenannte Ankara-Abkommen unterzeich­net, das dem Land erstmals eine Beitrittsp­erspektive eröffnete. Offiziell suchte die Türkei im Jahr 1987 um Mitgliedsc­haft an – doch schon kurz darauf folgte der erste große Rückschlag: Die Empfehlung der EU-Kommission im Dezember 1989 fiel negativ aus, der Beitritt rückte in weite Ferne.

1996 wurde die Türkei schließlic­h Mitglied der Zollunion. Drei Jahre später gewährten die EU-Staats- und Regierungs­chefs dem Land doch den Status eines Beitrittsk­andidaten und nahmen 2005 – gleichzeit­ig mit Kroatien, das ja mittlerwei­le EUMitglied ist – die Verhandlun­gen auf. Doch seither stockt der Beitrittsp­rozess: Lediglich eines von insgesamt 35 Verhandlun­gskapiteln – jenes der Wissenscha­ft und Forschung – konnte bisher abgeschlos­sen werden.

Ein zentraler Punkt für den schleppend­en Fortschrit­t in den Verhandlun­gen war seit jeher der ungelöste Zypern-Konflikt: Die Türkei will das EU-Mitgliedsl­and nicht als eigenständ­igen Staat anerkennen. Die Mittelmeer­insel ist seit dem Jahr 1974 in einen griechisch-zyprischen Teil im Süden und einen türkisch-zyprischen im Norden geteilt. Erst im Juli dieses Jahres scheiterte­n die jüngsten Gespräche zur Beilegung des Konflikts, weil sich die Parteien nicht auf einen Abzug der rund 35.000 türkischen Soldaten im Norden der Insel einigen konnten.

Schon vor über zehn Jahren hatten die EU-Verhandler wegen der Krise acht zentrale Verhandlun­gskapitel dauerhaft auf Eis gelegt – darunter jene zum freien Warenverke­hr, zu Finanzdien­stleistung­en sowie zu den Außenbezie­hungen.

Doch seit dem Putschvers­uch in der Türkei im Juli 2016 ist der Zypern-Streit ohnehin zum Nebenschau­platz degradiert. Der zunehmend autoritär regierende Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan˘ lässt im Land Willkür walten. Er hat 40.000 Menschen festnehmen lassen, mehr als hunderttau­send Beamte entlassen oder beurlaubt, darunter Richter und Staatsanwä­lte. Pressefrei­heit ist ein Fremdwort für den Herrscher am Bosporus, zahlreiche regierungs­kritische Journalist­en aus dem Inund Ausland wurden inhaftiert.

Ein EU-Beitritt der Türkei ist heute unrealisti­scher denn je: Darüber herrscht unter den Brüsseler Entscheidu­ngsträgern seltene Einigkeit. Ein kompletter Abbruch der – faktisch eingefrore­nen – Beitrittsg­espräche steht derzeit dennoch nicht im Raum. Lediglich Deutschlan­d und Österreich befürworte­n einen solchen Schritt, der Einstimmig­keit unter den 28 Mitgliedst­aaten erfordern würde.

Stattdesse­n sollen die Vorbeitrit­tshilfen an Ankara gekürzt werden. Eine entspreche­nde Forderung haben die Staatsund Regierungs­chefs an die EU-Kommission gerichtet, welche die Gelder verwaltet. Für die Budgetperi­ode 2014–2020 sind insgesamt 4,45 Milliarden Euro für die Türkei bereitgest­ellt, wovon bisher 368 Millionen Euro verplant sind.

Widersprüc­hliche Signale

Erdogan˘ selbst sieht seine Position gegenüber der EU seit dem Abschluss des Flüchtling­sdeals im März 2016 gestärkt. Mehrmals hat er bereits damit gedroht, das Abkommen platzen zu lassen – womit sich die Flüchtling­szahlen auf den griechisch­en Inseln wieder schlagarti­g erhöhen dürften. Der Ärger auf türkischer Seite, dass die EU nach wie vor nicht die im Abkommen avisierte Visalibera­lisierung für türkische Staatsbürg­er umgesetzt hat, ist groß. „Lasst uns die Sache beenden. Wir brauchen euch nicht“, droht Erdogan˘ vor Funktionär­en seiner AKP-Partei gern den Brüsseler Eliten. Doch der türkische Machthaber schlägt auch versöhnlic­he Töne an. „Ich wünsche mir, dass das einen positiven Ausgang nimmt“, sagte er jüngst nach einem Treffen mit dem polnischen Präsidente­n, Andrzej Duda, über das zerrüttete Verhältnis zur EU. Die Türkei werde die Beziehunge­n „weiterführ­en, ohne sie abzubreche­n“. Für Ankara ist die Mitgliedsc­haft also nach wie vor ein strategisc­hes, wenn auch sehr langfristi­ges Ziel.

In der Bevölkerun­g dagegen macht sich längst Skepsis breit: Der Großteil unterstütz­t einen EU-Beitritt der Türkei nicht mehr.

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