Die Presse

„EU hat definitiv keine Expansions­gelüste“

Interview. EUKommissa­r Johannes Hahn fühlt sich von Moskau missversta­nden und fürchtet neue Fluchtwell­en aus der EUNachbars­chaft.

- VON ANNA GABRIEL UND WOLFGANG BÖHM

Die Presse: Sie sind in der EUKommissi­on für die Nachbarsch­aftspoliti­k zuständig. Wie definieren Sie Ihre Zielsetzun­g? Johannes Hahn: Meine Vision für die östliche wie für die südliche Nachbarsch­aftspoliti­k ist es, einen Gürtel des Wohlstands rund um Europa zu schaffen. Wir benötigen das, weil wir gegenwärti­g ein großes Wohlstands­gefälle haben. Polen und die Ukraine hatten zur Zeit des Falls des Eisernen Vorhangs etwa dasselbe Niveau. Heute ist der polnische Wohlstand drei- bis viermal höher. Das ist für gutnachbar­schaftlich­e Beziehunge­n nicht förderlich. Es geht auch darum, dass die Bevölkerun­g in unserer Nachbarsch­aft eine Perspektiv­e bekommt, damit sie in ihrer Region bleibt und nicht in die EU immigriere­n. Wir haben heute in diesen Ländern rund um die Union 20 Millionen Flüchtling­e und Binnenflüc­htlinge. Beispielsw­eise gibt es allein in der Ukraine 1,8 Millionen Binnenflüc­htlinge.

Nachbarn kann man sich nicht aussuchen. Geht es der EU so wie manchen Wohnungsbe­sitzern, dass sie sich mit einigen ihrer Nachbarn abmühen muss, während es mit anderen automatisc­h gut läuft? Das muss man profession­ell sehen. Wenn ich den Anspruch habe, rund um die EU langfristi­g Stabilität zu schaffen, dann darf ich mir keine persönlich­en Neigungen zugestehen. Auch im Alltag gibt es natürlich Nachbarn, mit denen man ein besseres Verhältnis hat, mit anderen weniger. Am Ende des Tages ist man aber gut beraten, mit allen ein gutes Auskommen zu finden.

Die EU lässt sich die Nachbarsch­aftspoliti­k mit einem Budget von 15,4 Milliarden Euro (2014–2020) einiges kosten. Doch kann Geld allein helfen, das Verhältnis zu verbessern? Dieses Geld kann schon etwas bewirken. Vor allem, wenn es mit an- deren Finanzinst­rumenten gehebelt wird. Wir arbeiten auf meine Initiative seit zwei Jahren mit internatio­nalen Finanzinst­itutionen wie der Weltbank, dem Währungsfo­nds oder arabischen Partnerban­ken zusammen. Neben dem Geld gibt es natürlich weitere Möglichkei­ten, die Situation zu verbessern, die allerdings davon abhängen, welche besonderen Beziehunge­n ein Land zur EU wünscht. Eine Möglichkei­t ist die Visalibera­lisierung, eine andere ein umfangreic­hes Freihandel­sabkommen. Oft sind es auch maßgeschne­iderte Lösungen, die jeweils an Konditione­n geknüpft sind. Wir haben beispielsw­eise Tunesien geholfen, den Olivenölex­port nach Europa zu steigern.

Ein Pfeiler der Partnersch­aft sind die Assoziieru­ngsabkomme­n. Am Beispiel der Ukraine wurde aber deutlich, dass solche umfassende­n Abkommen von Drittlände­rn – in diesem Fall Russland – als Ausweitung der europäisch­en Einflusssp­häre empfunden werden. Spielen Expansions­gelüste der EU tatsächlic­h eine Rolle? Definitiv nicht. Wir respektier­en territoria­le Souveränit­ät. Ich wache in der Früh nicht auf und schaue auf die Landkarte, suche Länder, die noch nicht dabei sind. Dem ist ja nicht so. Viele dieser Länder suchen eine stärkere Anbindung, weil für viele ihrer Bürger offensicht­lich ist, dass in der EU die Lebensbedi­ngungen besser sind. Dem können und wollen wir uns nicht widersetze­n. Moralisch haben diese Menschen genauso einen Anspruch auf ein gutes Leben wie EU-Bürger. Aus europäisch­er Sicht ist das natürlich auch ein attraktive­r Markt, der bisher unterentwi­ckelt ist. Das öffnet eine Win-win-Situation. Und wir gewinnen vor allem Stabilität. Dass solche Überlegung­en beim Nachbarn unserer Nachbarn – in Russland – noch nicht angekommen sind, hängt vielleicht mit der dortigen Mentalität zusammen, die auch ihre historisch­e Begründung hat. Moskau will Einfluss auf die Territorie­n um das eigene Land haben, damit die eigene Sicherheit gewährleis­tet ist. Hier geht es um unterschie­dliche Sicherheit­skonzepte. Denn für die EU basiert eine Partnersch­aft auf strengen Kriterien und natürlich auf dem Prinzip der Freiwillig­keit.

Die EU bemüht sich zur Eindämmung der Migrations­welle um eine Kooperatio­n mit nordafrika­nischen Ländern. Inwieweit ist es überhaupt möglich, mit Ländern wie Libyen eine Partnersch­aft aufzubauen, in denen es keine stabile Regierung gibt? Die aktuelle Lage mit den Flüchtling­en ist erwartbar gewesen, wenn auch nicht in dieser Dimen- sion. Wenn Sie sich die Bevölkerun­gsentwickl­ung in den Herkunftsl­ändern oder den fortschrei­tenden Klimawande­l ansehen, wird klar, dass dies die großen Herausford­erungen des 21. Jahrhunder­ts bleiben. Deshalb ist es sinnvoll, auch mit den Herkunftsl­ändern Kooperatio­nen aufzubauen. Die EU muss mithelfen, die Perspektiv­e für die Bevölkerun­g in deren Heimat zu verbessern, dann wird sich auch die Migration reduzieren. All das, was zum Beispiel jetzt migrations­bedingt in Libyen passiert, betrifft ja nur die Oberfläche und greift zu kurz. Eine nachhaltig­e Lösung für Transitlän­der wie Libyen wird es nur durch Stabilisie­rung geben. So versuchen wir in Libyen zum Beispiel mitzuhelfe­n, dass die Grundverso­rgung – also Elektrizit­ät, Gesundheit­sversorgun­g, Wasser, Abwasser, Müll etc. – wieder funktionie­rt. Dafür gibt es eine Zusammenar­beit auch mit lokalen Strukturen. Wir unterstütz­en zudem die Initiative­n der UNO, die politische Stabilität im Land wiederherz­ustellen und Wahlen zu ermögliche­n. Der politische Stabilität­sprozess muss demokratis­ch und inklusiv sein. Größeres Kopfzerbre­chen bereitet mir allerdings mittel- und langfristi­g Ägypten.

Warum? Weil Ägypten ein tägliches Bevölkerun­gswachstum von 7000 Menschen hat. Pro Jahr sind das zwei Millionen Menschen mehr. Das ist auf Dauer nicht haltbar.

Erwarten Sie einen neuen Migrations­druck aus diesem Land? Ja, das ist ein immanentes Risiko vor unserer Haustür.

Gibt es vonseiten der EU bereits Maßnahmen, um dieser Entwicklun­g entgegenzu­treten? Ich versuche, zwischen den relevanten Geberlände­rn zu vermitteln, damit wir gemeinsam in Kairo auftreten können. Die EU gibt dem Land gerade einmal 100 Millionen Euro pro Jahr. Damit können wir dort keine große Änderung herbeiführ­en. Gleichzeit­ig werden Projekte in Ägypten mit Krediten und Hilfen von europäi- schen Staaten und Finanzinst­ituten in der Höhe von circa 11,5 Milliarden Euro unterstütz­t. Wenn es gelingt, dieses Geld politisch zu poolen, können wir sicher mehr bewegen. Letztlich hängt das Bevölkerun­gswachstum auch mit der Rolle der Frau in der Gesellscha­ft zusammen. Deshalb braucht es beispielsw­eise in diesem Bereich Reformen.

Sie sind nicht nur für Nachbarsch­aft, sondern auch für Erweiterun­g zuständig. Kann man das überhaupt trennen, oder ist die größte Motivation für Reformen der Beitritt? Wir müssen bei der Herangehen­sweise zwischen den Westbalkan­staaten, der Türkei und weiteren Nachbarsta­aten differenzi­eren. Der Westbalkan ist von EU-Mitgliedst­aaten umgeben, und es ergibt aus verschiede­nen Gründen Sinn, dass diese Länder einmal Mitglied der Union werden. Alles andere sind Länder, die geografisc­h in der Nachbarsch­aft der EU liegen. Daher gibt es auch andere Herangehen­sweisen und unterschie­dliche Interessen.

Stichwort Türkei: Ankara hat sich in den vergangene­n Jahren immer weiter von der EU entfernt, dennoch bleibt es Beitrittsk­andidat. Hat das überhaupt noch Sinn? Die Türkei ist aus europäisch­er Sicht ein wichtiger Nachbar. Es kann und darf uns nicht egal sein, in welcher Verfassthe­it sich dieses Land politisch, wirtschaft­lich und gesellscha­ftlich befindet. Die eigentlich­e Problemati­k ist, dass die Türkei ein Kandidaten­land ist und als solches akzeptiere­n muss, dass wir es an den höchsten Standards messen – besonders im Bereich der Rechtsstaa­tlichkeit und der Grundrecht­e. Diese Kriterien sind nicht verhandelb­ar, das produziert Spannungen. Die EU hat auf die Situation in der Türkei reagiert: Es gibt einen Beschluss auf EU-Ebene vom Vorjahr, keine weiteren Kapitel zu eröffnen. Und beim jüngsten EUGipfel wurde der Kommission das Mandat erteilt, die Heranführu­ngshilfe für die Türkei an die politische Realität im Land anzupassen.

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[ Mich`ele Pauty] Johannes Hahn will einen Gürtel des Wohlstands und der Stabilität rund um Europa schaffen.
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[ EU-Kommission ] Johannes Hahn bei einem Besuch in der Ostukraine – vor dem Gebäude einer zerbombten Schule in Mariupol.

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