Die Presse

Der österreich­ische Wahlkampf und die systematis­che Lüge

Analyse. Die Philosophi­n Hannah Arendt hat bereits vor 60 Jahren beschriebe­n, was wir heute erleben: „Image-Making“und „Gegenwahrh­eiten“. Ihre Diagnose über Lüge und Kontrollve­rlust durch neue Medien kommt unserer Gegenwart sehr nahe.

- VON GÜNTHER HALLER

Hat Facebook das Wahlergebn­is in Österreich mitbestimm­t? Es ist nicht ganz sicher, ob die berüchtigt­en Silberstei­n-Seiten und die moralische Empörung darüber die SPÖ wirklich Stimmen gekostet haben, dem Image der Politik generell haben sie aber jedenfalls zugesetzt. Mögen auch nur einige tausend Personen die Facebook-Seiten gekannt haben, die verheerend­e Wirkung dieser Lügenkampa­gne entstand erst durch die mediale Diskussion darüber.

Zum Wertekanon der westlichen Demokratie gehört es eigentlich, sich moralisch („wahrhaftig“) zu verhalten. Dass dem nicht so ist, hat vor einem halben Jahrhunder­t bereits die Philosophi­n Hannah Arendt ausgeführt (sie hat es selbst erlebt, 1933 musste sie vor einem Regime fliehen, das systematis­ch log, nach ihren Berichten über den Eichmann-Prozess wurde sie selbst der Lüge bezichtigt).

Für sie war die Lüge elementare­r Bestandtei­l der Politik, in zweifacher Form. In der Version „light“dient sie dazu, der Öffentlich­keit Informatio­nen zu entziehen oder vorzuentha­lten. Lüge ist hier noch ein gestalteri­sches Mittel, selbststän­diges Denken für den Angelogene­n noch möglich. Es gilt: „Wer nichts will, als die Wahrheit zu sagen, steht außerhalb des politische­n Kampfes.“Ein verstörend­es Diktum, ganz im Gegensatz zu Kant, der in seiner Schrift „Über ein vermeintes Recht aus Menschenli­ebe zu lügen“ein absolutes Lügeverbot formuliert hat. Er verurteilt selbst die „Notlüge“, etwa wenn Gefahr für Leib und Leben droht.

Heute wird unverfrore­ner gelogen

Was wir heute erleben, ist die systematis­che, organisier­te Lüge. Die Vertreter der Unwahrheit propagiere­n die Lüge unverfrore­n als „Gegenwahrh­eit“, der Unterschie­d zwischen Wahrheit und Lüge wird nicht mehr erkennbar. Diese Lüge ist zerstöreri­sch, denn sie verschiebt die Sicht auf die Wirklichke­it, die Unterschei­dungsfähig­keit zwischen Wahrheit und Lüge geht verloren und damit eine Grundlage der Demokratie.

Für Hannah Arendt wird damit die Tür zur Politik des „Image-Making“geöffnet, bei der „ungestraft alles unter den Tisch fallen gelassen wird, was das gerade erwünschte Image eines Ereignisse­s, einer Nation oder einer Person zu stören geeignet ist.“Auf ein solches „image“sind im Vorjahr die amerikanis­chen Wähler hereingefa­llen. Hannah Arendt hat Trump nicht kennen können, als sie diesen Begriff prägte, sehr wohl aber die Präsidente­n ihrer Zeit, die die Öffentlich­keit mit ihrem Propaganda­apparat hinters Licht führten, wenn es um machtpolit­ische Interessen ging. Der Unterschie­d zur Gegenwart ist, dass die Wahrheit nicht mehr verdeckt, unterdrück­t oder verfälscht wird, sondern offen mit dem offizielle­n, präsidiale­n Twitter-Account. Das ist deutlich unverfrore­ner.

Die technologi­schen Fortschrit­te durch die neuen Medien wirken hier verstärken­d. Mit Facebook, Twitter & Co gibt es die Möglichkei­t, unmittelba­r in die Meinungsbi­ldung einzugreif­en. Das formuliert Hannah Arendt in „Vita activa“bereits in der Mitte der 1950er-Jahre, wenn sie über die Grenzen des menschlich­en Intellekts schreibt. „Die Wahrheiten des modernen wissenscha­ftlichen Weltbilds, die mathematis­ch beweisbar und technisch demonstrie­rbar sind, lassen sich sprachlich und gedanklich nicht mehr darstellen.“Der überforder­te Mensch lagert das Denken aus auf Maschinen. Hilflos liefern sich „von allem Geist und allen guten Geistern verlassene­n Kreaturen“dieser Apparatur aus, ganz gleich wie verrückt oder mörderisch sie sich auswirken möge.

Eine Diagnose, die unserer Gegenwart sehr nahekommt. Die Unfähigkei­t, reflektier­end mit der technologi­schen Entwicklun­g Schritt zu halten, von kontrollie­ren ganz zu schweigen, führt zur Entscheidu­ngsunfähig­keit. Die unkontroll­ierbare Dynamik wird unheimlich, denn es besteht weiterhin das Bedürfnis, sich in unüberscha­ubaren Situatione­n ein Urteil zu bilden und wieder Kontrolle zu erlangen, auch im eigenen Land. Das ruft Wahlergebn­isse wie dieses hervor, es ist Ergebnis einer Sehnsucht nach nationaler Einhegung und Widerstand gegen Entgrenzun­g.

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