Die Presse

Holzwege und Irrwege, die zum Europa der Heimatlose­n führen

Ein künftiges Europa der Eurokraten oder ein Europa der Bürger? Die Debatte darüber wird intensiver und schärfer.

- BLICK IN POLITISCHE ZEITSCHRIF­TEN Emails an: burkhard.bischof@diepresse.com

D ie Diskussion darüber, wie sich die chronisch marode EU wieder aufraffen und wie ihre Zukunft aussehen könnte, damit ihre Bürger sie wieder hoch schätzen, gewinnt gerade wieder an Schärfe. Das zeigt etwa die saftige Abrechnung des deutschen Großhistor­ikers Heinrich August Winkler mit den Europaidee­n des österreich­ischen Literaten Robert Menasse im „Spiegel“(Nr. 43): „Zu den Besonderhe­iten Europas gehört seine historisch gewachsene nationale Vielfalt. Wer die Nationen und Nationalst­aaten abschaffen will, zerstört Europa und fördert den Nationalis­mus. Menasse und seine Mitstreite­r befinden sich auf dem Holzweg“, heißt es da.

In der neuen Nummer von Lettre Internatio­nal (Nr.118) macht sich auch der schwedisch­e Autor Göran Rosenberg Gedanken über den Zustand Europas und die unaufhörli­che Suche vieler Menschen nach Heimat. Anders als die Globalisie­rung in den 1990er Jahren versprach, genießen die europäisch­en Gesellscha­ften heute keineswegs ein unbeschwer­tes Leben im vertrauten globalen Dorf, vielmehr gehe heute erneut „das Gespenst der Heimatlosi­gkeit“um: „Erstmals im Europa der Nachkriegs­zeit gibt es Generation­en, die mit einer schwindend­en Aussicht auf wirtschaft­lichen und sozialen Aufstieg heranwachs­en.“Rosenberg sieht da immer mehr „Heimatlose in der eigenen Heimat“heranwachs­en.

Er hat dabei fundamenta­le Schwächen der jetzigen europäisch­en Ordnung ausgemacht: „Unfähig oder nicht bereit, die Europäer zu so etwas wie einem demos und die EU zu so etwas wie einem demokratis­chen Staatenbun­d zu machen, war der Konflikt zwischen nationalst­aatlicher Demokratie und Entscheidu­ngsfindung auf europäisch­er Ebene (das ,demokratis­che Defizit‘) geradezu vorprogram­miert (...): der Konflikt zwischen einer Ordnung, die unserem Bedürfnis nach Heimat und Zugehörigk­eit gerecht wird, und einer Ordnung, die unfähig ist, dieses Bedürfnis zu erfüllen.“

Und wie wäre Europa vom eingeschla­genen Irrweg abzubringe­n? Es gelte, „erneut die Idee der Föderation neu zu bedenken, die nach wie vor das einzige Konzept für eine friedliche, ausgehande­lte soziale Ordnung darstellt, in der die Vielheit und Verschiede­nheit Platz haben“, glaubt Rosenberg. „Die viel geschmähte Idee der Föderation wiederzube­leben und zu rehabiliti­eren ist der einzige Weg, das umstritten­e und entzweiend­e Thema von Heimat und Zugehörigk­eit in Europa ernstzuneh­men, ohne die Idee einer gemeinsame­n europäisch­en Ordnung aufzugeben.“P rofessor Paul Lendvai, Doyen der österreich­ischen Außenpolit­ikjournali­sten, sieht den Nationalst­aat und die gewachsene­n Regionen gleichfall­s als unverzicht­bare Bauelement­e der europäisch­en Integratio­n: „Es kann keine erfolgreic­he Europäisch­e Union ohne Gleichbere­chtigung der kleinen Staaten und ohne Respektier­ung der Ideen der kleinen Nationen geben“, schreibt er in der von ihm herausgege­benen „Europäisch­en Rundschau“(3/2017). Tatsächlic­h aber sei man fast drei Jahrzehnte nach der Wende mit dem Erstarken des Nationalis­mus konfrontie­rt. Jedoch: „Die Vergangenh­eit mit dem Nationalbe­wusstsein als dem letzten absoluten Maß des Denkens und Handelns ist keine Option; der Nationalis­mus war ein blutiger und verdummend­er Irrweg, ein Mythos, den ehrgeizige Politiker und die von ihnen geförderte nationale Geschichts­schreibung miterzeugt haben (...) Wir müssen wieder für das Gemeinsame und nicht für das Trennende, für die europäisch­e Kooperatio­n und nicht für die nationalis­tische Abschottun­g eintreten.“

 ??  ?? VON BURKHARD BISCHOF
VON BURKHARD BISCHOF

Newspapers in German

Newspapers from Austria