Der Eklat im Konzertsaal
Wien modern I. Die Uraufführung von Henzes „Das Floß der Medusa“ging 1968 in Hamburg in einem Skandal unter. Heute wird das packende Stück in Wien gespielt.
Demonstrationen, Fahnen, Flugblätter, Sprechchöre, Transparente, Polizeieinsatz, Eskalation, Gewalt, Verhaftungen, Verletzte – und kein Ton Musik: Wilde Szenen spielten sich ab am 9. Dezember 1968 in einer zum Konzertsaal umfunktionierten Hamburger Messehalle. Vor versammeltem Publikum und Ehrengästen wie Georg Solti oder Peter Ustinov endete die Uraufführung von Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“im Chaos, bevor sie begonnen hatte – als einer der spektakulärsten Skandale der Musikgeschichte. Seine Grundlage hatte er in einem humanitären Desaster, das damals eineinhalb Jahrhunderte zurücklag.
Am 2. Juli 1817 lief die französische Fregatte „Meduse“´ vor Westafrika auf Grund: Der inkompetente Kapitän wollte die ArduinSandbank nicht umfahren. Ein Sturm gab dem Schiff den Rest. Die Rettungsboote blieben Kapitän, Offizieren und Passagieren aus Adel und guter Gesellschaft vorbehalten. 147 Menschen wurden teils mit Waffengewalt auf ein kaum seetüchtiges Rettungsfloß gezwungen, wo ihnen das Wasser bis zur Hüfte stand. Es sollte von den Booten an Land geschleppt werden, war aber kaum zu steuern. Das Seil wurde gekappt, das Floß trieb steuerlos ab. Bald herrschten auf ihm Panik und Gewalt. Lebensmüde ließen sich über Bord spülen, andere wurden gestoßen, erdrückt oder exekutiert. Leichen dienten als Nahrung. Nach zwölf Tagen Martyrium konnten nur noch 15 Elende gerettet werden, von denen fünf wenig später an Land starben – darunter der Matrose Jean-Charles. Sein Tage- buch brachte den Skandal ans Licht und führte zu einem politischen Köpferollen. Von Gericaults´ Gemälde „Le Radeau de la Medu-´ se“(1819) an bis zu Franzobels Roman „Das Floß der Medusa“(2017) hat das Unsägliche auch die Kunst beschäftigt.
Das zivilisatorische Versagen und die ungebrochene Aktualität des Falls Medusa interessierten auch Henze und seinen Librettisten Ernst Schnabel. Im Auftrag des NDR formulierten sie 1968 ihre Sicht auf das Unglück in einem „Dokumentar-Oratorium“, einem Werk „zwischen Kantate, Bachscher Passion und zeitgenössisch-zeitloser Parabel“, so der Henze-Biograph Jens Rosteck. Schnabel nützte dazu Jean-Charles’ Tagebuch, durchwirkte es mit Zitaten aus Dantes „Göttlicher Komödie“und ließ einen Sprecher als Charon, den Totenfährmann der Unterwelt, die Geschehnisse referieren.
Links die Lebenden, rechts die Toten
Die Bühne war dreigeteilt: links die Lebenden mit Bläsern und einem Bariton als JeanCharles; rechts, bei den Streichern, die Toten – anfangs nur die Sopranistin als Allegorie des Todes; in der Mitte Schlagwerk und Charon. Im Laufe des Stücks bewegten sich immer mehr Chormitglieder von links nach rechts. Das Konzept verband also Elemente von Hörspiel und epischem Theater. Die packende Musik vermittelte Pathos und Strenge, Gefühl und Anklage.
Dass Henze das Werk jedoch dem 1967 ermordeten Revolutionsführer Che Guevara widmete, wurde zum roten Tuch für das konservative Bürgertum im Westen des geteilten Deutschland: Die Nerven lagen blank in Zeiten von Berliner Mauer, Studentenbewegung, Notstandsgesetzgebung und APO. Die Presse polemisierte: „Hör zu“kündete die geplante Liveübertragung hämisch als „Musik für Che“an; der „Spiegel“ätzte, Henze sei „der alte Ästhet, der gepflegte Epigone, der geschmäcklerische Eklektizist“geblieben. Das legte den Finger auf eine kaum vernarbte Wunde: Im Kreis der strengen Avantgarde hatte Henze ebenso als Außenseiter gegolten wie im bürgerlich-konservativen Konzertbetrieb, wo er als Kommunist gebrandmarkt war. „Ich kam mir in jenen Tagen vor wie getrennt vom Rest der Menschenwelt“, erinnerte sich Henze später, „zu keiner ihrer Gruppierungen gehörend.“
Streit um die rote Fahne
In Hamburg geriet er zwischen alle Fronten. Studentengruppen verteilten revolutionäre Flugblätter. Zum Eklat kam es dadurch, dass sie auch eine rote Fahne am Podium montierten. Während bereits Kriminalpolizei im Saal war, fing ein Jurist des NDR Henze auf dem Weg zum Dirigentenpult ab: Wenn er die Fahne nicht entferne, sei er für die Folgen verantwortlich, raunte er ihm zu. Henze lehnte ab. Darauf weigerten sich Mitglieder des aus Westberlin angereisten RIAS-Kammerchor, unter dem Symbol des Kommunismus zu singen. Nach heftigen Wortwechseln gingen die Interpreten wieder ab: Edda Moser war unter Tränen für die Aufführung, Dietrich Fischer-Dieskau fühlte sich von Henze „hinters Licht geführt“. Polizei in Kampfmontur und Helmen stürmte in den Saal, Schnabel fiel knüppelnden Beamten in den Arm, wurde durch eine Glastür gestoßen, verletzt, verhaftet. Der stellvertretende NDR-Intendant entfernte die rote Fahne.
Henze ergriff das Mikrofon: „Die Polizei verhindert jegliche Diskussion, ich distanziere mich von den Brutalitäten.“Und er stimmte mit geballter Faust in den Ho-Chi-MinhSchlachtruf ein, den die Studenten skandierten. Das Publikum konnte nicht wissen, dass dessen Rhythmus dem Schlagzeug-Epilog des Oratoriums zugrunde liegt – nach den letzten Worten Charons: „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück: belehrt von Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen.“
So hatte das „Oratorio militare e volgare“seinem Untertitel indirekt alle Ehre gemacht. Seine Uraufführung fand erst 1971 statt – ausgerechnet im Wiener Musikverein. Heute, fast ein halbes Jahrhundert nach seiner geplatzten Premiere, hat das „Floß der Medusa“, dieses epische Werk der Klage und der Anklage, angesichts im Mittelmeer ertrinkender Flüchtlinge erschreckend neue Brisanz erhalten. Wien Modern stellt es nun im Konzerthaus wieder zur Diskussion: in Starbesetzung mit Dietrich Henschel, Sven-Eric Bechtolf, Sarah Wegener sowie Arnold Schoenberg Chor, Wiener Sängerknaben und, wie 1971, dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien, nun unter Cornelius Meister.