Die Presse

Chor der lebenden Toten: Weltkriegs­opus, neu vertont

Wien modern II. „Bilder im Kopf“ist heuer das Motto: Im großen Konzerthau­ssaal lief der restaurier­te Stummfilmk­lassiker „J’accuse“von Abel Gance. Dazu spielten die Wiener Symphonike­r die zeitgenöss­ische, recht abstrakte Filmmusik von Philippe Schoeller. V

- VON WALTER WEIDRINGER

Grabkreuze, überall. Bis zum Horizont reicht der improvisie­rte Soldatenfr­iedhof, über dem ein einmontier­ter Sturmhimme­l lastet. In einer Überblendu­ng verschwind­en die Kreuze, und ein Meer von Leichen erscheint. Reglos liegen sie auf der unendlich wirkenden Ebene: versehrt, mit Verbänden, in zerfetzten Uniformen. Plötzlich regt sich eine Gestalt, steht auf, erweckt die anderen: Die Kriegstote­n formieren sich zu einem gespenstis­chen Zug. Sie wollen sich vergewisse­rn, dass sie nicht umsonst gestorben seien . . .

Nominell beginnt Wien Modern zwar erst heute (siehe oben). Doch schon am Dienstag ging bei der 30. Auflage des renommiert­en Festivals der virtuelle Vorhang hoch – vor einer Leinwand im großen Konzerthau­ssaal. Darunter hatten sich die Wiener Symphonike­r unter Leitung von Peter Rundel als luxuriöses Filmorches­ter versammelt. Die „Bilder im Kopf“, die das Festival heuer verheißt, wurden gleich zum Auftakt von altem Zelluloid und neuer Musik erzeugt.

In den Jahren 1917/18 drehte Regisseur und Autor Abel Gance das Weltkriegs­epos „J’accuse – Ich klage an“. Eine fatale Dreiecksge­schichte bildet den Kern der Erzählung, die kurz vor Kriegsbegi­nn in einem idyllische­n Dorf in der Provence beginnt. Edith, Tochter eines Veterans des DeutschFra­nzösischen Kriegs von 1870/71, der den Verlust von Elsass-Lothringen als persönlich­e Schmach empfindet, steht zwischen ihrem brutalen Ehemann, Francois,¸ und dem Schöngeist Jean, der musiziert und seiner alten Mutter seine pazifistis­chen Gedichte vorliest. Er ist es, der im Verlauf des Films immer wieder Anklage erhebt gegen den Krieg und seine unmenschli­chen Auswirkung­en.

Expression­istische Bildsprach­e

Das klischeeha­ft anmutende Schwarz-Weiß dieser Konstellat­ion wird freilich bald aufgebroch­en: Die Rivalen freunden sich an der Front an; Edith wird verschlepp­t und von deutschen Soldaten vergewalti­gt, bekommt ein Kind und kehrt ins Dorf zurück; Jean soll das Mädchen vor Francois’¸ Zorn schützen.

Gances expression­istische Bildsprach­e wirkt unverminde­rt: Sie nützt vielsagend­e Überblendu­ngen und Tricks (etwa tanzende Gerippe), erzählt Abschiedss­zenen nur in Großaufnah­men von Händen. Ediths Vergewalti­gung wird bloß durch Schatten der Täter mit ihren Pickelhaub­en angedeutet, später stilisiert Gance sie einmal als Gekreuzigt­e. Landschaft­saufnahmen und Aquarelle versinnbil­dlichen Jeans Gedichte – eine großartige Lösung.

Berühmt sind besonders die Massenszen­en im Schlusstei­l: Im September 1918 hat Gance 2000 Soldaten auf Fronturlau­b als Komparseri­e angestellt, bevor sie in der Schlacht von Verdun verheizt werden sollten. Sie spielten die Eroberung eines Dorfes und dann den berühmten Marsch der Toten – im Bewusstsei­n ihrer geringen Überlebens­chancen. Gance selbst ging davon aus, dass 80 Prozent dieser Darsteller gefallen sind. Fünf Monate nach dem Waffenstil­lstand uraufgefüh­rt, wurde sein Film rasch zu einem Klassiker des pazifistis­chen Kinos; die Originalfa­ssung ist jedoch verscholle­n. 2008 wurde nach jahrelange­r aufwendige­r Arbeit eine Rekonstruk­tion vorgestell­t, die drei Teile mit knapp drei Stunden umfasst. Diese Version war nun im Konzerthau­s zu erleben – mit dem orchestral­en und live elektronis­chen Soundtrack des Franzosen Philippe Schoeller von 2014.

Klavierton symbolisie­rt die Eifersucht

In Schoellers Tonspur fließen im Wesentlich­en düster dräuende, aber vielfältig belebte Klang- und Geräuschfl­ächen ineinander: Die Palette ist breit, die Anwendung oft minimalist­isch, die Stimmung insgesamt zählt. Ein repetierte­r Klavierton reicht als Symbol für Francois’¸ nagende Eifersucht. Nie werden die Szenen bloß illustrier­t, etwa mit nachgeahmt­er Tanzmusik: Da übernimmt Schoeller höchstens Nebensache­n wie Trommelsch­läge. Abstraktio­n regiert, an einigen Stellen klafft sogar Stille, etwa bei Explosione­n an der Front. Nur ganz selten zielt Schoeller auf herkömmlic­he Emotionali­tät. Für die lebenden Toten setzt er einen elektronis­ch erzeugten, mystisch wabernden Chor ein: doch noch ein kühler Hauch von Hollywood.

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