Der Anfang einer Rücktrittswelle?
Großbritannien. Verteidigungsminister Fallon trat zurück, weil er vor 15 Jahren einer Journalistin aufs Knie griff. Gerüchten zufolge leisteten sich auch andere Konservative gröberes Fehlverhalten.
London. Eine Binsenweisheit der britischen Politik lautet: „Labour stolpert über Finanzskandal, die Konservativen kommen durch Sexgeschichten zu Fall.“Dass diese Aussage immer noch stimmt, wurde mit dem Austausch von Verteidigungsminister Michael Fallon durch den bisherigen Fraktionschef Gavin Williamson bewiesen. Fallon hatte zuvor überraschend seinen Rücktritt erklärt: „Mein Verhalten entsprach nicht den Maßstäben, die wir an die britischen Streitkräfte legen“, schrieb er in seinem Entlassungsgesuch.
Fallon war vorgeworfen worden, vor 15 Jahren bei einem Abendessen der Journalistin Julia Hartley-Brewer mehrfach auf das Knie gegriffen zu haben. Sie selbst bezeichnete den Vorfall nach Bekanntwerden als „mildly amusing“und fügte hinzu: „Ich sagte zu ihm: ,Wenn Sie nicht aufhören, bekomme Sie eine Ohrfeige.‘“Nach der Entlassung Fallons sprach sie von einer „absurden“Entscheidung.
Tatsächlich nährte der Rücktritt den Verdacht, dass damit nur gravierenderes Fehlverhalten verborgen werden sollte. Seit dem Weinstein-Skandal häufen sich auch auf der Londoner Politikbühne die Berichte über sexuelle Übergriffe und Ausnützung von Abhängigkeitsverhältnissen. Eine Labour-Aktivistin erschütterte die Partei mit dem Bericht über ihre Vergewaltigung am Rande einer Parteiveranstaltung. Unter den Konservativen soll eine Liste mit 40 Namen kursieren, die sich verschiedenste Formen des Fehlverhaltens geleistet haben sollen. Die Sekretärin zum Kauf von Sexspielzeugen zu schicken, wie es Staatssekretär Mark Garnier tat, soll da noch zu den harmloseren Übertretungen zählen.
Weitere Enthüllungen galten als unausweichlich. „Fallons Rücktritt wird sicher nicht der letzte gewesen sein“, sagte ein „sehr ranghoher Konservativer“dem „Evening Standard“. Die Londoner Stadtzeitung wird von George Osborne, dem Ex-Schatzkanzler, geführt. Nicht nur ist er der schärfste Widersacher von Premierministerin Theresa May. Er verfügt auch nach wie vor über exzellente Kontakte in die konservative Partei.
Unvermeidlicherweise konzentrierten sich die Spekulationen auf Außenminister Boris Johnson, der in der Vergangenheit mit zahlreichen Affären für Schlagzeilen gesorgt hatte. Die vier Kinder aus seiner Ehe mit der Juristin Marina Wheeler sollen nicht seine einzigen sein. Auf die Frage, ob sein Verhalten immer „untadelig“gewesen sei, erwiderte Johnson gestern emphatisch: „Darauf können Sie wetten!“Als neuen Verteidigungsminis
nominierte Premierminister ter May den bisherigen Fraktionschef der Tories im Unterhaus, Gavin Williamson. Sollte sie damit auf eine Beruhigung der Lage gehofft haben, wurde sie enttäuscht. Ausgerechnet aus den eigenen Reihen wurde heftige Kritik an der Berufung des 41-Jährigen laut. Williamson habe „noch nie einen Fuß in ein Ministerium gesetzt, und nun bekommt er eines der wichtigsten Ämter des Landes“, lautete eine der Reaktionen. Beliebt hatte sich der neue Minister unter seinen Kollegen offenbar auch nicht gemacht. Auf seinem Schreibtisch hielt er sich eine Giftspinne, und ähnlich sei sein persönlicher Stil. „Er ist von nacktem Ehrgeiz getrieben“, sagte ein Tory-Abgeordneter.
Theresa May im Dilemma
May steckt im Dilemma. Ihre Konservativen haben im Parlament keine Mehrheit und müssen bei jeder Nachwahl weitere Verluste fürchten. Gleichzeitig verspricht die Regierungschefin „schonungsloses Aufräumen“bei allen Skandalen. Um die schlimmsten Übeltäter auszutauschen, fehlt ihr aber der Spielraum. Diese Lage spitzt sich dieser Tage weiter zu, weil es nach mehr als einem halben Jahr immer noch nicht gelungen ist, die Regierungskrise in Nordirland zu lösen. Damit wird es bald unvermeidlich, die Direktverwaltung über die Provinz wieder zu verhängen. Dies freilich lehnt die Democratic Unionist Party vehement ab, die der Regierung May als Mehrheitsbeschaffer im Londoner Unterhaus dient.