Die Wolfsschlucht als Horrortrip
Baden. Intendant und Regisseur Michael Lakner wagt sich im Stadttheater an Webers „Freischütz“und kreiert eine Mischung aus Operette, Computerspiel und Drogenrausch.
Der Blick in die Aufführungsstatistik ist symptomatisch: 120 Jahre lang wurde am Stadttheater Baden kein „Freischütz“mehr gespielt – jenes Werk Carl Maria von Webers, das die musikalische Romantik mitbegründet hat, dessen neuartige Instrumentierungseffekte Berlioz schwärmen ließen; eine veritable Volksoper voller Wunschkonzerthits, geschrieben von einem tragisch früh verstorbenen Komponisten, ohne den der Bewunderer Wagner niemals jener Wagner hätte werden können, den wir kennen. Der „Freischütz“ist musikalisch schwierig geblieben, Webers Anforderungen sind nach wie vor hoch. Und er ist auf der Bühne schwierig geworden: Die Regie muss sowohl eine altväterische Idylle als auch deren dämonische Gegenwelt glaubwürdig machen; ein kleines Theater kann das nicht im Handumdrehen so großartig hinbekommen wie die Netflix-Serie „Stranger Things“.
Das alles lässt sich auch in Baden nicht leugnen, wo nun Michael Lakner nach seinem Abschied vom Lehar-´Festival Ischl als Intendant waltet und sich nicht von Wien einschüchtern lässt. Als Regisseur setzt er beim „Freischütz“mehrere Hebel an, die allerdings in verschiedene Richtungen arbeiten. Das Stück spielt diesmal nicht im Böhmerwald, sondern im Salzkammergut – oder besser, Manfred Wabas Ausstattung nach zu schließen, im Operettenland. Jedes Dirndl steckt im Dirndl und jeder Bursch in Lederhosen, hier werden Schenkel geklopft und Schuhe geplattelt, wie sonst rund ums Weiße Rössl – und da bloß wegen der Touristen.
Es knirscht in der „heilen“Welt
Das war immer ein Konstrukt, wirkt aber desto irrealer, wird es als unsere Gegenwart ausgegeben: Nicht nur in den Gesangstexten ersetzen neuere Ausdrücke die altmodischen („Tränen“statt „Zähren“), auch die Dialoge werden verändert, teils mit Dialektwörtern eingefärbt, teils aufgepeppt. Max wird zum Loser, Ännchen beruft sich traumdeutend auf Sigmund Freud. Dadurch knirscht es immer wieder in dieser zwischen Realität und Parodie schwebenden „heilen“Welt – und unnötige Unterbrechungen mit Blackout und einem einzigen Satz inneren Monologs einer Figur im Scheinwerferkegel stören den Fluss. Eindruck machen dagegen die (wohl bewusst nicht hyper-)realistischen Videoanimationen, die Andreas Ivancsics für die Wolfsschluchtszene geschaffen hat: Gruselatmosphäre im Stil eines Computerspiels.
Lakner deutet Dämon Samiel (Oliver Baier) zum Dealer um und borgt sich von Berlioz (und dessen „Symphonie fantastique“) den Drogenrausch aus, der Max die Höllengeister vorgaukelt: Reinhard Alessandri schlurft blass, nägelbeißend durch den Wald und stellt mit etwas gepresst klingendem Tenor glaubwürdig den prüfungsneurotischen Jägerburschen dar. Sebastien´ Soul`es ist als Max’ Rivale Kaspar bei Agathe abgeblitzt: Ihm gelingt es nur bedingt, seine Rachegelüste in machtvolle Baritontöne zu verwandeln. Allemal hörenswert dagegen Regina Riels gerade im Introvertierten wunderbare Agathe, die mit etwas verhangenem Ton schwebende Pianophrasen formt.
Wer musikalische Waldbrände wie bei weiland Carlos Kleibers Dresdner Studioaufnahme erhoffen würde, wäre selbst schuld. Das Orchester der Bühne Baden schlägt sich unter Franz Josef Breznik immerhin wacker und schafft sogar den einen oder anderen Funkenflug – etwa im noblen Bratschensolo zur Arie des Ännchen, dem Theresa Grabner die nötige Soubrettenkontur verleiht. Freundlicher Applaus.