Der Blues eines Händeschüttlers
Konzert. Schmerzensmann mit dick aufgetragener Selbstironie: Nick Cave ging auf Seelenfang – und konsequent auf Körperkontakt mit dem Publikum.
Die Welt wird besser. Wer sich noch an Nick Caves Konzert vor 30 Jahren im Wiener Raimundtheater erinnern kann – und das sind erstaunlich viele –, kann berichten: Damals stieß er die Hände, die sich ihm, dem zornig-düsteren Meister, devot von unten näherten, unwillig von sich. Nur eine Flasche Whiskey, die nahm er gern.
Diesmal schüttelte Nick Cave von Beginn bis zum Ende seines Auftritts die Hände wie ein verzweifelt um Wähler kämpfender Politiker. Er streichelte sie, klopfte auf die eine oder andere Schulter, bevor er wieder in eine seiner großen, ausladenden Gesten verfiel, seinen monströsen Ausschlagkragen (Wo bitte bekommt man noch solche Hemden?) flattern ließ, huldvoll einen Arm ausstreckte, als ob er die Menge segnen wollte, leichtes Taumeln andeutete, sich grazil erfing, dann wieder jäh den Finger auf Erwählte im Publikum richtete . . .
Was für ein Theater. Was für ein Menschenfischer. „With my voice I am calling you“, sang er in „Jesus Alone“, dem dritten Song des Abends. Eine dringliche Anrufung, eine unheimliche Verdichtung, ausgehend von persönlichem Leid: Hier ruft er zunächst seinen Sohn, der vor zwei Jahren erst 15-jährig im LSD-Rausch von einer Klippe gestürzt und gestorben ist. Dann andere Leidende, dann alle, alle. Eine Frau in einem Schwarm von Kolibris, einen Drogensüchtigen im Hotelzimmer, einen Arzt, der noch an Gott glauben will. Die Litanei mündet in eine dunkle Formel der Gemeinsamkeit: „Let us sit together in the dark until the moment comes.“
An solchen Stellen verging einem das Lächeln über die Anmaßungen des Nick Cave. Wohl auch, weil ihm da selbst die romantische Ironie vergangen ist, mit der er sich selbst sonst gern als Schmerzensmann glorifiziert und belächelt zugleich. Mit der er von seiner eigenen Rührung gerührt ist. Von der des Publikums sowieso. Das darf dann mitsingen, den „Ship Song“, den noch tränenreicheren „Weeping Song“. Oder „Into My Arms“, das selbstverliebteste Liebeslied aller Zeiten. Das sind Momente, in denen man – die persönliche Anmerkung sei gestattet – aus ganzem Herzen froh ist, dass wir nicht mehr in den späten Achtziger- oder frühen Neunzigerjahren leben, als solche düsteren Rotweinrührseligkeiten das Lebensgefühl in der sogenannten Indie-Szene geprägt haben. Wie gesagt, die Welt wird besser.
Flüssigeres Schmalz quoll aus den Songs des aktuellen Albums, „Skeleton Tree“. „Magneto“ist eine bestürzende Kombination aus Liebessehnen, religiösem Wahnsinn („It was the year I officially became the pride of Jesus“) und einer Badezimmerszene, in der das Blut fließt; in „I Need You“glaubt man Cave ausnahmsweise, dass er ein Du meint und nicht nur sich selbst. In „Distant Sky“und „Skeleton Tree“besticht er durch sparsamere Wortwahl, das Problem dieser Songs (wie so mancher Nick Caves) ist die eher öde Melodik. Und dass die Band – geleitet vom unermüdlich als schrulliger Teufelsgeiger posierenden Warren Ellis – zu wenig Feuer anfacht, um die allzu drögen Szenarien zu beleben. Live interessanterweise noch weniger als auf Platte. Vielleicht auch, weil Ellis und Cave ihren Bad Seeds zu wenig Freiheit lassen, ihren eigenen Dämonen Auslauf zu gönnen. Man will ja nicht nostalgische Gefühle für Blixa Bargeld entwickeln, aber der hätte sich dieser Disziplin nicht unterworfen.
„Könnt ihr mein Herz fühlen?“
Die ganz alten Beschwörungen dagegen packen noch immer. Im Programm hat Nick Cave derzeit „From Her to Eternity“, den Albtraum einer Liebe als Sucht, und „Tupelo“, die pochende Vision von der Geburt Elvis Presleys in einer apokalyptischen Gewitternacht, vom König als Kind der Katastrophe, als Zwilling eines Totgeborenen. Leider konnte Cave es nicht lassen, zu den Zeilen „Go to sleep, little children“tatsächlich ein Mädchen auf die Bühne zu holen, das nicht wusste, wie ihm geschah.
Davor hatte er sich schon, wohl als Besucherinnen seine Händedrücke zu heftig erwiderten, über „sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“beklagt. Um ein paar Zeilen später eine fremde Hand zu seinem Herzen zu führen, während er klagend sang: „Can you feel my heart beat?“Das war beim „Higgs Boson Blues“, einer wilden Collage, in der er den Leibhaftigen selbst anruft. Wie auch in der Mörderballade „Stagger Lee“, in deren Verlauf er das enthusiasmierte Publikum zurechtwies: „Psst! It’s not funny!“
Ein Entertainer halt. Ein gereifter, wie man so sagt. Am Ende ist natürlich alles, wie schon Mick Jagger wusste, nur Rock’n’Roll. Oder auch nicht. „Some people say it’s just rock’n’roll“, predigte Nick Cave in der letzten Zugabe, „but it gets right down to your soul.“Da hing, während an der Garderobe schon die Schlangen standen, noch einmal die Besinnlichkeit schwer in der Saalluft, und auf der Bühne wiegten sich die dorthin Berufenen, von Cave dirigiert, im bedächtigen Schunkelrhythmus. Die Herzen waren offen. Man munkelt von Wunderheilungen. Der Kanzler äußerte sein Wohlgefallen via Twitter. Die Welt bleibt besser.