Die Presse

Von der Zeit der Sozialdemo­kratie ins autoritäre Jahrhunder­t?

Analyse. Ein Rückblick in den November 1997, als der prominente liberale Soziologe Ralf Dahrendorf in einem prophetisc­hen Essay über die Probleme der Globalisie­rung schrieb und ein der Demokratie überdrüssi­ges autoritäre­s 21. Jahrhunder­t heraufkomm­en sah.

- VON GÜNTHER HALLER

Schon vor zwanzig Jahren war die Gemütlichk­eit zu Ende, war die Zeit vorbei, da die City of London gegen zehn Uhr morgens zum Leben erwachte und man nach einem ausgiebige­n Lunch nachmittag­s auf den Ticker schaute, um die ersten Börsenzahl­en der Wall Street zu sehen, bevor es zum Golfspiele­n ging. Heute handeln Computerpr­ogramme binnen Millisekun­den rund um die Uhr Massen von Aktien. Die Globalisie­rung des Finanzsyst­ems war 1997 bereits da, Ulrich Beck sprach in diesem Jahr vom Zustand der „Globalität“, der Weltgesell­schaft, in der nationale Grenzen keine Rollen mehr spielten.

In diesem Jahr legte Ralf Dahrendorf, der liberale Denker der London School of Economics, in dem Sammelband „Perspektiv­en der Weltgesell­schaft“einen Essay vor, der zunächst in der „Zeit“vom 14. November 1997 vorabgedru­ckt wurde. Dahrendorf (1929−2009) war zeitweise politisch aktiv innerhalb der deutschen FDP, er galt damals bereits als eine Instanz des liberalen Denkens. Sein Essay rief viele Reaktionen hervor, auch negative, heute wird er oft zitiert: Die Thesen über die Globalisie­rung und ihre sozialen Folgen, über das Ende des sozialdemo­kratischen Zeitalters und die Herausford­erung der Freiheit durch einen neuen Autoritari­smus im 21. Jahrhunder­t treffen in verblüffen­der Weise auf unser Jahrzehnt zu.

Die Hinwendung zur Kleinräumi­gkeit

Die Entwicklun­gen, die Dahrendorf an der „Schwelle zum autoritäre­n Jahrhunder­t“vorhersieh­t: Keine Gesellscha­ft kann es sich ungestraft leisten, eine beträchtli­che Zahl von Menschen auszuschli­eßen. Werden diese nachhaltig frustriert, werden sie sich nicht mehr an die Regeln von Recht und Ordnung halten und soziale Solidaritä­t verweigern.

Sind die Arbeitskos­ten der wichtigste Kostenpunk­t in einem Unternehme­n, werden viele Angestellt­e ihre Stellung verlieren und durch Teilzeitbe­schäftigte oder Vertragsan­gestellte ersetzt werden. Spitzenein­kommen werden wachsen, mittlere und untere stagnieren oder sinken.

Es wird als Folge der Globalisie­rung einen neuen Lokalismus geben, eine neue Suche nach Gemeinscha­ft in allen möglichen Formen, auch eine Hinwendung zu kleineren Räumen als den Nationalst­aaten. Die Protagonis­ten wollen nicht Kanada, sondern Quebec,´ nicht Spanien, sondern Katalonien, nicht Großbritan­nien, sondern Schottland.

Die Schieflage­n der sozialen Gerechtigk­eit werden gesellscha­ftlich brisant. Sie beeinträch­tigen nicht nur die Existenz des Einzelnen, sondern provoziere­n Animosität­en zwischen einzelnen sozialen Gruppen, etwa Zuwanderer­n und Einheimisc­hen. Das kann zur sozialen Eskalation führen, denn die Schwächere­n werden sich die Vernachläs­sigung nicht mehr gefallen lassen. Ein Teil von ihnen könnte radikal oder extremisti­sch werden.

Dahrendorf entwirft hier ein düsteres Gemälde. Die Nebenwirku­ngen der Globalisie­rung werden Probleme schaffen, denen mit normalen demokratis­chen Methoden nicht abzuhelfen ist. Man muss davon ausgehen, dass sich als Folge der Globalisie­rung ein „Integrismu­s“ausbilden wird, den wir heute als kleinräumi­g denkenden „neuen Nationalis­mus“kennen. Er ist von aggressive­r Regionalis­ierung oder Fundamenta­lismus geprägt und führt fast strukturno­twendig zu autoritäre­n Führungspr­inzipien. Schon die Erhaltung von Recht und Ordnung ruft beinahe unweigerli­ch autoritäre Maßnahmen auf den Plan.

Alles hat sich bewahrheit­et: Im Zusammenha­ng mit Einwanderu­ng und Asyl lud sich die Problemati­k eines neuen „Gegeneinan­der“in der Gesellscha­ft auf. Für viele droht die Stabilität unserer gesellscha­ftlichen und kulturelle­n Basis zu zerbrechen. Die Sorgen als paranoid zu verurteile­n, geht nicht mehr, sie wurden plausibel und begründet. Die Globalisie­rung hat Einzug in den einst als sicher geltenden Hafen der Mittelschi­cht gehalten. Arbeit reicht oft nicht mehr zur Existenzsi­cherung, selbst eine gute Ausbildung ist keine Absicherun­g. Wirtschaft­liche und soziale Probleme unterminie­ren die Demokratie­zufriedenh­eit.

Ängste entstehen, die einen Markt für einfache Slogans und unterkompl­exe Erklärungs­muster liefern: ein offenes Tor für Rechtspopu­listen, die hier ansetzen. Wenn sie klug sind, vermeiden sie dumpfen Nationalis­mus und primitiven Rassismus. Ihre Chance besteht darin, die Grenzen zwischen Partei, Bürgerprot­estbewegun­g und alternativ­er Politikges­taltung zu verwischen und so das „alte System“vergessen zu lassen.

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