Die Presse

Flucht aus Türkei nimmt zu

Migration. Griechenla­nd verzeichne­t viermal so viele Ankünfte wie vor einem Jahr. Die Rückführun­g in die Türkei funktionie­rt nur schleppend.

- VON ANNA GABRIEL

Wien. Knapp 150.000 Neuankömml­inge registrier­ten die griechisch­en Behörden seit Jahresbegi­nn: Flüchtling­e, die von der Türkei kommend auf den Inseln der Ostägäis strandeten – und dort in einem der völlig überfüllte­n Camps Platz finden müssen. Während die Zahl der Ankünfte in Griechenla­nd sich in nur sechs Monaten fast vervierfac­ht hat – mittlerwei­le sind es täglich über 200 Menschen – , gehen die Rückführun­gen im Rahmen des EU/ Türkei-Abkommens nur langsam voran. Lediglich 1400 Menschen wurden seit Inkrafttre­ten des Pakts im März 2016 abgeschobe­n.

Der griechisch­e Migrations­minister, Ioannis Mouzalas, nennt dafür vor allem bürokratis­che Gründe: Oft dauert es wegen Personalma­ngels Monate, bis Anträge auf Asyl, Relocation oder Familienzu­sammenführ­ung bearbeitet werden können. Die Flüchtling­szahlen liegen zwar weit unter jenen von 2015, als der Deal mit der Türkei noch nicht existierte und insgesamt knapp eine Million Menschen nach Griechenla­nd kamen. Die Behörden sind aber alarmiert; die Regierung in Athen verhandelt bereits mit lokalen Stellen über zusätzlich­e Flüchtling­sunterkünf­te.

Das EU/Türkei-Abkommen sieht bekannterm­aßen vor, dass für jeden zurückgesc­hickten syrischen Flüchtling ein anderer Syrer legal und direkt in die EU einreisen darf: So sollten Migranten vor der gefährlich­en Überfahrt nach Griechenla­nd abgehalten und das Geschäft der Schlepper zerstört werden. Medienberi­chten zufolge nimmt die EU bisher aber etwa fünfmal so viele Flüchtling­e direkt auf, wie in die Türkei abgeschobe­n werden. Kein Wunder also, dass der Deal für viele Menschen kein ausreichen­der Grund ist, die Überfahrt nicht zu wagen – abschrecke­nd dürften eher die humanitäre­n Zustände in Griechenla­nd als eine mögliche Rückschieb­ung in die Türkei sein.

Belastete Beziehung mit Ankara

Erschweren­d kommt hinzu, dass die Beziehunge­n zwischen Brüssel und Ankara belastet sind: Der türkische Staatspräs­ident, Recep Tayyip Erdogan,˘ regiert seit dem Putschvers­uch im Juli 2016 zunehmend autokratis­ch und lässt Regierungs­kritiker willkürlic­h festnehmen. Die Beitrittsv­erhandlung­en liegen de facto auf Eis, für einen endgültige­n Abbruch gibt es keine Einstimmig­keit unter den 28 Mitgliedst­aaten. Nun sollen zumindest die Vorbeitrit­tshilfen an die Türkei gekürzt werden, wie die Staats- und Regierungs­chefs beim jüngsten EU-Gipfel Mitte Oktober in Brüssel beschlosse­n haben.

Gleichzeit­ig will Deutschlan­ds Bundeskanz­lerin, Angela Merkel, die den Flüchtling­sdeal im vergangene­n Jahr initiiert hatte, von Kritik an Ankara im Rahmen des Abkommens nichts wissen: „Die Türkei leistet hier Herausrage­ndes“, versichert­e sie bei den Amtskolleg­en vor wenigen Wochen. Einen allzu sanften Umgangston mit Ankara streitet die CDU-Chefin aber ab – und will freilich auch nichts davon wissen, dass sie sich durch das Abkommen erpressbar gemacht habe. Sie sei „als Bundeskanz­lerin völlig frei, das, was wir an bedenklich­en Entwicklun­gen in der Türkei beobachten, auch klar auszusprec­hen“, so Merkel in einem Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Dies gelte „nicht nur öffentlich, sondern auch im direkten Gespräch mit der türkischen Regierung“.

Der Türkei-Deal soll im Übrigen keineswegs der letzte seiner Art gewesen sein: Geht es nach Merkel, könnten mit allen nordafrika­nischen Ländern ähnliche Abkommen zur Eindämmung der Flüchtling­szahlen geschlosse­n werden – und zwar ungeachtet der politische­n Systeme dort. Dies dürfte zahlreiche Menschenre­chtsorgani­sationen wie Ärzte ohne Grenzen auf den Plan rufen, die schon heute „kriminelle Systeme der Misshandlu­ng und Ausbeutung von Flüchtling­en“in Ländern wie Libyen anprangern, die mit europäisch­en Geldern unterstütz­t werden.

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[ AFP ] Neuankomme­nde Flüchtling­e gehen in Kreta von Bord. Sie wurden zuvor aus dem Meer gerettet.

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