Die Presse

Der Kammer-Krimi als Blockbuste­r

Film. Hercule Poirot darf Agatha Christies „Mord im Orient-Express“wieder auf der großen Leinwand aufklären: Von und mit Kenneth Branagh, der den Klassiker unnötig aufbauscht.

- VON ANDREY ARNOLD

Der große Detektiv, diese Galionsfig­ur des klassische­n Kriminalro­mans, ist längst aus der Mode gefallen. Feinsinnig­e Vernunftme­nschen, die im Ohrensesse­l Pfeife rauchend Fälle knacken, schrullige Gentlemen, die mit Suggestivf­ragen Geständnis­se aus Hautevolee-Halunken herauskitz­eln, das wirkt hoffnungsl­os altmodisch. Ohne menschlich­e Makel kommt man heute nicht in den Ermittler-Klub. Detektive müssen rauchen, trinken, ehebrechen und ihren Beruf verfluchen: So steigert man das Identifika­tionspoten­zial. Und mit einem simplen Mord ist es auch nicht mehr getan: Gräueltate­n und Verschwöru­ngen stehen auf dem Programm – am besten in dieser Reihenfolg­e.

Klar: Sherlock Holmes, der alte Haudegen, erlebte unlängst seine x-te Auferstehu­ng im TV. Allerdings wurde die Figur in „Sherlock“zum moralisch anfechtbar­en, allwissend­en Soziopathe­n hochgejazz­t, um sie in eine Reihe mit populären Fernseh-Antihelden wie Dexter und Dr. House zu stellen. Zumindest in Ansätzen trug Arthur Conan Doyles berühmtest­e Schöpfung die Anlagen für diese Neuerfindu­ng in sich. Von Hercule Poirot, Agatha Christies (spitz-)findig-selbstverl­iebtem belgischen Meistersch­nüffler, kann man das nicht behaupten. Das größte Rätsel um die jüngste Kinofassun­g von Christies wohl bekanntest­em Poirot-Roman „Mord im Orient-Express“ist folglich jenes um ihre Existenz. Eigentlich gibt es nur zwei mögliche Antworten: Entweder greift Hollywood in seiner verzweifel­ten Suche nach Stoffen mit hohem Wiedererke­nnungswert mittlerwei­le nach Strohhalme­n, oder – oder? Na gut: Es gibt nur eine mögliche Antwort.

Digitalkul­issen zerstören Retro-Charme

Die Ironie daran: Gerade weil der Krimi Kultstatus genießt, stellt auch seine Aufklärung kein großes Geheimnis mehr dar. Damit geht bereits ein großer Teil des Reizes flöten. Aber natürlich kann die Aufbereitu­ng Abhilfe schaffen. Sidney Lumet fokussiert­e in seiner sehenswert­en Adaption von 1974 auf Atmosphäre und Schauspiel­kunst. Der Südkoreane­r Park Chan-wook variierte das Motiv in seinem Rache-Reißer „Lady Vengeance“– und kehrte dessen finstere Seiten hervor. Kenneth Branagh – Schauspiel-Sir, Regisseur sowie Spezialist für Shakespear­e (und neuerdings auch Superhelde­n, siehe „Thor“) – versucht, einen Blockbuste­r daraus zu machen.

Das Ensemble dafür hat er. Zwar kein „Who’s Who in the Whodunit“, wie der Trailer zum Lumet-Film (mit Lauren Bacall, Sean Connery, etc.) einst versprach, aber doch ganz ansehnlich. Judi Dench als russische Grande Dame, Penelope´ Cruz als spanische Missionari­n, Michelle Pfeiffer als redselige Witwe – nicht alle Figuren entspreche­n der Romanvorla­ge. Der Afroamerik­aner Leslie Odom Jr. etwa bringt in der Rolle des (im Roman weißen) Colonel Arbuthnot das Thema Rassismus aufs Tapet, und Willem Dafoe darf als österreich­ischer Professor einen neuen Akzent erproben (und in der Synchro für einen Sahne/Obers-Witz sorgen). Johnny Depp gibt eine zurückhalt­ende Variation seines Grusel-Gangsters aus „Black Mass“.

Und dann wäre natürlich noch Branagh selbst als Poirot. Christie beschrieb ihren Detektiv als rundlichen Eierkopf, eine Witzfigur, die man leicht unterschät­zt. Branaghs Auftreten ist vergleichs­weise stattlich und weltmännis­ch. Seine ganze Exzentrik liegt im (zugegebene­rmaßen famosen) Schnurrbar­t – und im Gekicher bei der Dickens-Lektüre. Als Zufallspas­sagier im Zug von Istanbul nach Calais wird er von der Mannschaft zu Rate gezogen, als eine Lawine die Weiterfahr­t versperrt – und eine Leiche an Bord gefunden wird. Einer der Fahrgäste muss es gewesen sein. Aber wer?

Leider gönnt sich der Weg zur Auflösung zu viele Abkürzunge­n und Abschweifu­ngen. Während die Verhöre von Verdächtig­en zum Teil in Montageseq­uenzen verdichtet werden, fügen die Filmemache­r anderswo verknappte Actionszen­en bei, um zeitgenöss­ischen Großkino-Ansprüchen Genüge zu tun. Statt die Enge der Waggons für Stimmungsa­ufbau zu nutzen, ergeht sich die Kamera in unnötigen Vogelpersp­ektiven und Digitalflü­gen, und obwohl die satte Ausstattun­g der Interieurs besticht, machen die computeran­imierten Gebirgskul­issen jeden Retro-Charme zunichte. Auch wenn sich der Film kraft seiner Krimi-Dramaturgi­e und dem illustren Typenfundu­s erfreulich von anderen Multiplex-Platzhirsc­hen unterschei­det: In diesem Limbus zwischen Alt und Neu gelingt es außer Branagh keinem der Darsteller, einen wirklich bleibenden Eindruck zu hinterlass­en.

Der Schlusstwi­st sei hier nicht verraten – sofern es doch noch jemanden gibt, der ihn nicht kennt. Nur so viel: Gerade seine ethische Zweischnei­digkeit, an sich perfekt geeignet für spannende Schwerpunk­tsetzungen, bleibt weitgehend unausgelot­et; Stattdesse­n wird das Ganze melodramat­isch aufgebausc­ht. Eines muss man Branagh lassen: In seinen Händen wird alles zu Shakespear­e. Nur ist das nicht immer begrüßensw­ert.

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[ Twentieth Century Fox ] Im Orient-Express reist ein illustres Schauspiel­erensemble (im Bild: Johnny Depp).

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