Das Doppelleben des Tariq Ramadan
Frankreich. Der Islamwissenschaftler steht wegen mutmaßlicher Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs am Pranger. Er sei womöglich schlimmer als Harvey Weinstein, sagt seine Biografin.
Wien/Paris. „Charlie Hebdo“hatte wieder in die Vollen gegriffen. In Todesverachtung gegenüber dem Echo in der arabischen Welt hob die Pariser Satirezeitschrift neulich den „Islam-Weinstein“auf das Cover. „Ich bin die sechste Säule des Islam“, ließen die Karikaturisten den konservativen Schweizer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan in einer Sprechblase in Anspielung auf die fünf Säulen der Weltreligion sagen. Unterhalb der Gürtellinie ragt derweil eine riesige Erektion aus der Hose, die eher einer Rakete gleicht.
Prompt gingen in der Pariser Redaktion, die vor beinahe drei Jahren Ziel eines verheerenden Anschlags geworden war, der zwölf Opfer gefordert hat, Todesdrohungen ein. Damals rückte „Charlie Hebdo“Michel Houellebecqs kontroversielles Buch „Unterwerfung“aufs Titelbild, in dem der Schriftsteller einen muslimischen Präsidenten in Frankreich imaginiert. Als Vorbild diente ihm dabei angeblich Tariq Ramadan – und hier schließt sich der Kreis.
Denn im Zuge der WeinsteinAffäre und des Outing-Tsunamis
MeToo erhebt eine Reihe von Frauen massive Vorwürfe gegen den gebürtigen Genfer und inzwischen beurlaubten Oxford-Professor, der einen von Katar finanzierten Lehrstuhl innehatte. Der Enkel des Gründers der Muslimbruderschaft in Ägypten gilt als Galionsfigur eines konservativen Islam und Starintellektueller auf allen Podien, darunter vor acht Jahren auch im Rahmen des Symposiums „Biografie und Religion“auf Einladung des Ludwig-Boltzmann-Instituts in der Wiener Nationalbibliothek.
Peiniger „Zoubeyr“
Im Vorjahr hat die frühere Salafistin Henda Ayari in dem Buch „J’ai choisi d’etreˆ libre“(„Ich habe entschieden, frei zu sein“) ihre qualvolle Lebensgeschichte ausgebreitet: „Ich war eine lebende Tote.“In einem Kapitel schildert sie die Vergewaltigung durch einen berühmten Gelehrten, der 2012 nach einer Konferenz in einem Hotelzimmer in Paris über sie hergefallen sei. „Er schlug und attackierte mich. Ich sah in seinen wahnsinnigen Augen, dass er nicht länger Herr seiner selbst war. Ich hatte Angst, dass er mich tötet.“Sie nannte ihren Peiniger „Zoubeyr“.
Vor wenigen Wochen enthüllte Ayari dessen Identität: Tariq Ramadan. Seither melden sich immer mehr Frauen, die den 55-jährigen Islamwissenschaftler, den Vater von vier Kindern, der im Ruf eines charismatischen, eleganten Intellektuellen mit arroganter Aura steht, als Serientäter anprangern und der Vergewaltigung bezichtigen. Viele Frauen nennen ihn nun in einem Atemzug mit Harvey Weinstein und Roman Polanski. In ihrer Ramadan-Biografie sammelte die Journalistin Caroline Fourest seit Jahren Anschuldigungen. „Je religiöser die Frauen waren, desto heftiger bedrängte er sie.“Er sei vielleicht schlimmer als Weinstein.
Im Nachrichtenmagazin „L’Obs“, dem früheren „Nouvel Observateur“, plauderte Bernard Godard, der ehemalige Islam-Beauftragte im Pariser Innenministerium, aus der Schule. Er habe gewusst, dass Ramadan „unzählige Geliebte“gehabt habe. Godard beschrieb den Ablauf so: „Dass man ihm nach Vorträgen Frauen im Hotel zuführte; dass er sie dazu animierte, sich auszuziehen; dass ihm einige Widerstand entgegensetzten und er aggressiv und gewalttätig werden konnte: ja.“Nie aber habe er von Klagen wegen Vergewaltigung gehört. Ans Licht kam jetzt auch, das Ramadan als Lehrer an einem Genfer Gymnasium systematisch minderjährige Schülerinnen verführt habe.
„Generation Ramadan“
Ramadan spricht von einer Verleumdungskampagne und von einvernehmlichem Sex; seine Umgebung von einer „Verschwörung französisch-israelischer Kreise gegen den Antizionisten“. Für die muslimische Banlieue-Jugend in Frankreich, die Islamforscher Gilles Kepel als „Generation Ramadan“klassifiziert, ist der 55-Jährige so etwas wie ein Held. Er plädiert bei seinen Vorträgen für eine Trennung des Sitzbereichs von Männern und Frauen, für die Schleier-Praxis. Er weigert sich, die Steinigung abzulehnen. Nun stellt sich heraus, dass er womöglich ein Doppelleben geführt hat.