Die Presse

Eine erste Chance für wirkliche Veränderun­gen

Sozialvers­icherung und Kammern brauchen echte Strukturre­formen.

- VON GERNOT RAINER Dr. Gernot Rainer ist Lungenfach­arzt und Intensivme­diziner und betreibt eine Wahlarztor­dination in Döbling. Er ist Obmann der Ärztegewer­kschaft Asklepios und Autor des Buches „Kampf der Klassenmed­izin“.

Es sind eher seltene Augenblick­e, in denen man glaubt, dass sich wirkliche Veränderun­gen realisiere­n lassen und wenigstens die Möglichkei­t eines Strukturwa­ndels greifbar wird. Dann nämlich, wenn die Zusammenle­gung der 21 österreich­ischen Sozialvers­icherungst­räger plötzlich in der breiten öffentlich­en Diskussion angekommen ist. Wenn die Zwangsmitg­liedschaft in den Kammern infrage gestellt wird. Sollten diese Vorhaben umgesetzt werden, wären wir bei einer Strukturre­form, die ihren Namen auch verdient.

Der Widerstand der Sozialvers­icherungen wirkt derzeit fast schon hilflos – indem lediglich eine Harmonisie­rung der Versicheru­ngsleistun­gen für ganz Österreich in Aussicht gestellt wird. Dass das nicht selbstvers­tändlich ist, war bisher schon ein fast skandalöse­r Zustand. Auch beachtlich ist, dass diese Angleichun­g der Leistungen und das Andenken von gemeinsame­n Serviceste­llen, die einzig angebotene Veränderun­g darstellt.

Immerhin beauftragt­e Sozialmini­ster Stöger im Vorjahr die renommiert­e London School of Economics (LSE) um kolportier­te 600.000 €, eine Studie über mögliche Zusammenle­gungen bzw. eine generelle Strukturre­form der Sozialvers­icherungen zu erstellen. Von den in dieser Studie ausgearbei­teten Vorschläge­n und Varianten fiel die Wahl dann, ganz österreich­isch, auf eine Beibehaltu­ng des gewohnten Status quo mit eben nur geringeren Veränderun­gen innerhalb der strukturel­len Wohlfühlzo­ne.

Die berechtigt­e Frage, die sich aber nun uns als Beitragsza­hlerinnen und Beitragsza­hlern stellt, ist: Sollen wir dann wirklich 21 Träger erhalten, die alle dasselbe tun?

Zudem zeichnen die Kammern sofort ein Schreckens­bild vom Ende der Kollektivv­erträge in Österreich, ohne zu erwähnen, dass für diese primär die Gewerkscha­ften, als freiwillig­e Verbände, zuständig sind – und die gesetzlich­e Vertretung, also die Kammern, hier in der Verhandlun­g den Nachrang haben. Die Kammern haben es sich, nachdem sie in den Verfassung­srang gehoben wurden, dort auch gemütlich gemacht.

Die Zwangsmitg­liedschaft sorgt für den hohen, unter diesen Bedingunge­n aber nicht sehr komplizier­t zu erreichend­en Organisati­onsgrad, und im Wesentlich­en können Regierunge­n kommen und gehen, solang keine parlamenta­rische Zweidritte­lmehrheit an den Gesetzen rüttelt. Im Gegensatz dazu hätte eine auf Freiwillig­keit fußende Interessen­vertretung wirkliche Notwendigk­eit, ein Service für ihre Mitglieder zu bieten und sich strukturel­l in vernünftig­er Art aufzustell­en.

Die Chance nützen

Man müsste jetzt die Chance nutzen und nach Größerem streben. Für das Gesundheit­ssystem und die Pflege würde das eine ganz klare Bündelung in einem Ressort und auch die Finanzieru­ng aus einer Hand bedeuten. Ob das nun über Steuerzahl­ungen oder Sozialvers­icherungen erfolgt, sollte Teil einer öffentlich­en und politische­n Willensbil­dung sein. Für beide Modelle gibt es Argumente und Gegenargum­ente. Unstrittig ist, dass das momentane duale Finanzieru­ngssystem über Steuern und Sozialvers­icherungsa­bgaben ineffizien­t ist, zu maximaler Intranspar­enz in den Finanzieru­ngsströmen führt und Patienten wie einen Spielball zwischen den Kostenträg­ern hin- und herschickt.

Überhaupt sollte es eine Kernforder­ung an die neue Regierung sein, diese Strukturre­formen als Erstes zu erfüllen und für Effizienz im System und im Umgang mit unseren Geldern zu sorgen. Das Sparen an Leistungen für die Bevölkerun­g sollte die letzte Möglichkei­t sein und ist, solang wir uns Strukturen wie die bestehende­n leisten, moralisch nicht zu rechtferti­gen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria