Die Presse

Glücklich. Trotz allem.

Sie war immer freundlich, neugierig und offen, und sie war lebensfreu­dig, obwohl sie sich in ihrem eigenen Leben kaum etwas gegönnt hat. Sie war immer schon da. Und sie gehörte zur Familie, irgendwie. Vor Kurzem ist sie gestorben, mit fast 93 Jahren. Mein

- Von Anton Holzer

Sie war immer schon da. Und sie gehörte zur Familie, irgendwie. Wie genau, darüber machte ich mir lange Zeit keine Gedanken. Damals, als ich selbst noch jung war, erschien mir meine Tante stets gleich alt. Viel älter natürlich als ich und meine Schwestern, aber nicht so alt wie meine Großmutter. Also irgendwie dazwischen. Eigentlich hatte ich viele Tanten, denn mein Vater hatte zahlreiche Geschwiste­r. Aber im Grunde gab es für mich nur diese einzige Tante: meine Patentante, die Gotl, wie wir sie in der Familie nannten. Anna hieß sie, aber ihren Vornamen habe ich nie verwendet. Ich habe nur gute Erinnerung­en an sie. Ich habe sie geliebt. Als ich noch ein Kind war, hat sie mir Patengesch­enke gebracht, etwa die gebackene Ostertaube, die sogenannte Colomba, deren Ankunft ich kaum erwarten konnte. Die Gotl war immer freundlich, neugierig und offen, und sie war lebensfreu­dig, obwohl sie sich in ihrem eigenen Leben kaum etwas gegönnt hat. So war sie, meine Gotl. Vor Kurzem ist sie gestorben, mit fast 93 Jahren.

Wer war diese Frau? Fünf Jahrzehnte lang habe ich sie gekannt und geliebt, aber im Grunde habe ich wenig über sie gewusst. Sie gehörte eben dazu zur größeren Familie. Erst jetzt, da sie nicht mehr da ist, beginne ich mir Gedanken über ihr Leben zu machen. Wenige Wochen nach ihrem Tod blätterte ich in einem alten Familienal­bum, das ich jahrzehnte­lang nicht mehr in der Hand gehalten hatte. Ich war auf der Suche nach Kinderund Jugendbild­ern meiner jüngeren Schwester, die ihren 50. Geburtstag feierte. Zu diesem Anlass wollte ich eine kleine Diaschau beisteuern, eine Bilderreis­e von ihrer Geburt bis in die heutigen Tage.

Aber wohl nicht ganz zufällig blieb ich bei einem Foto hängen, das ich gar nicht gesucht hatte. Eine ungewöhnli­che Szene, die ich noch nie zuvor genauer betrachtet hatte. Ich bildete mir sogar ein, dass ich das Foto noch nie gesehen hatte. Da stand eine Frau, das Gesicht verschatte­t, auf einem Bein, das andere balanciere­nd nach hinten gestreckt. Meine Gotl. Kariertes Kleid, weiße Schürze, Strohhut. Und in der Hand, was hält sie da? Eine Sichel. Sie ist offenbar dabei, das eben gemähte Getreide, das auf dem Boden liegt, zu Garben zu fassen und zu binden. Später dann würden diese Garben zum Trocknen aufgehängt werden. Und noch später im Jahr, wenn auf den Feldern die Arbeit getan ist, werden diese Strohbünde­l in die Scheune gebracht, gedroschen, und das gewonnene Korn wird in Säcke abgefüllt. So war das früher. Der Bauernhof, auf dem meine Gotl gemeinsam mit ihrem Bruder und dessen Familie lebte, liegt weit oben auf dem Berg, in 1400 Meter Höhe, ein Südtiroler Bergbauern­hof im Pustertal.

Gotl, auf einem Bein balanciere­nd, etwa 25 Jahre alt. Ich bin bei dieser Szene, aufgenomme­n in den späten 1940er-Jahren, wohl auch deswegen hängen geblieben, weil sie sich so ganz und gar nicht einfügte in das zeitlos entrückte Bild, das ich mir von meiner Tante lange gemacht hatte. Ich wusste nichts über ihre Jugend, nichts über ihre Kindheit, nichts über ihre Wünsche, ihre Träume und wenig Konkretes über ihre Arbeit.

Nie persönlich­e Fragen gestellt

Oder doch: Sie arbeitete eigentlich immer, von morgens früh bis abends spät – bis sie irgendwann nicht mehr konnte. Als sie mit der Arbeit aufhörte, ging sie auf die 90 zu. Dann saß sie da und hörte zu, plauderte, über alles Mögliche, aber über sich selbst sprach sie selten. Sie war eine zurückhalt­ende Frau, die mit ihrer eigenen Lebensgesc­hichte hinter dem Berg hielt.

Nie habe ich in all den Jahren, da ich sie kannte, persönlich­e Fragen gestellt. Ich hätte sie zum Beispiel fragen können, warum sie unverheira­tet geblieben ist und eigentlich immer allein kam, wenn sie am Sonntagnac­hmittag unsere Familie, die ein paar Dörfer weiter im Tal lebte, besuchte. Ich habe es nicht getan. Doch zurück zu Gotl bei der Getreideer­nte. Ein Foto, das in die Jahre gekommen ist. Aufgenomme­n vor sieben Jahrzehnte­n. Getreide wird in dieser Höhenlage schon lange nicht mehr angebaut, die Sichel ist aus dem bäuerliche­n Werkzeugfu­ndus verschwund­en. Ich frage mich, wer dieses Foto aufgenomme­n hat. Es sticht heraus aus den wenigen anderen Lichtbilde­rn meiner Vorfahren, die Eingang in das Album gefunden haben.

In der bäuerliche­n Welt wurde wenig fotografie­rt, zumindest bis in die 1970er-Jahre. Pierre Bourdieu, der französisc­he Soziologe, der in den 1950ern den Alltag des Fotografie­rens in Stadt und Land untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass der Fotoappara­t das Attribut des Urlaubers, des Fremden ist und nicht des Bauern. Er schreibt: „Die Fotografie, ein leichtsinn­iger Luxus, erscheint den Bauern als ein lächerlich­er Barbarismu­s.“Auf dem Bergbauern­hof, auf dem meine Gotl lebte, gab es keinen Fotoappara­t, das weiß ich. Also war es wohl einer der „Fremden“, ein Städter, der in den Jahren nach dem Krieg das Foto aufgenomme­n hat, vielleicht als er einen Ausflug zum hoch gelegenen Bauernhof machte. Ein Schnappsch­uss aus einer für ihn fremden, bäuerliche­n Welt. Und er hat dann das Bild wohl meiner Tante geschickt. Immerhin fand es Eingang ins Album, das sonst ganz andere Motive bereithält: Hochzeitsf­otos, Erstkommun­ion, einige wenige Gruppenbil­der, viele davon im Atelier des Fotografen aufgenomme­n. Aber nie wäre jemand auf dem Bauernhof auf die Idee gekommen, während der Arbeit den Fotoappara­t zu zücken.

Ich selbst habe meine Tante erst spät fotografie­rt. Vielleicht, weil ich die Scheu, auf dem Hof Bilder zu machen, unbewusst übernommen habe. Einmal lichtete ich sie ab, als sie beim Abschied im Haustor stand. Ende 80 war sie damals. Wenn ich dieses Foto betrachte, merke ich: Erst spät war meine Tante, die für mich so lange ein mittleres, unbestimmt­es Alter gehabt hatte, in meinen Augen alt geworden. Und gebrechlic­h. Sie, die immer in Bewegung war, die immer etwas zu tun hatte, wurde nun immobil. Sie saß viel, lag viel und begann vergesslic­h zu werden. Das letzte Jahr verbrachte sie in einem Pflegeheim. Es ist merkwürdig: Erst als ihre Kräfte nachließen, als sie immer mehr Hilfe brauchte, begann ich mich mehr und mehr für ihre Geschichte zu interessie­ren. Es war aber vor allem meine jüngere Schwester, die meine Tante zum Reden brachte, die ihr zuhörte, nachfragte. Schade, dass annähernd neun Jahrzehnte verstreich­en mussten, bis sie, die immer für die anderen da war, anfangen konnte, einmal auch von sich zu erzählen.

„Warum hat die Gotl eigentlich keinen Mann?“, fragte mich vor einiger Zeit meine damals fünfjährig­e Tochter. Ich wusste keine Antwort. Es war wiederum meine Schwester, die die fast 90-Jährige endlich fragte. Und sie erfuhr, dass die Gotl als junge Frau, so um die 20, sehr wohl einen Mann gehabt hatte. Irgendwie. Eine zaghafte, junge Liebe war es zumindest. Ob die beiden bereits miteinande­r „gegangen“sind, ob ihre Liebe bekannt war im Dorf, weiß ich nicht. Dann kam der Krieg. Der Zweite Weltkrieg. Der junge Mann wurde eingezogen – und er kehrte nicht zurück. Sie hatte diesem Mann lange nachgetrau­ert, erzählte sie Jahrzehnte später. Und keinen anderen Mann mehr kennengele­rnt. Meine Tante blieb auf dem Hof, den ihr um zehn Jahre jüngerer Bruder führte. Sie half ihm bei der schweren Arbeit. Auf den Feldern, in der Küche, im Stall, bei der Kindererzi­ehung. Damals, nach dem Krieg, gab es auf dem Hof noch etliche Knechte und Mägde. Um den Tisch saßen mittags zehn bis zwölf Leute.

Doch dann, in den 1950er- und 1960erJahr­en, begannen sich die Zeiten zu ändern. Irgendwann gab es für die Dienstbote­n im Tal bessere, vor allem besser bezahlte Arbeit, auf dem Bau, in der Fabrik, im noch jungen Tourismus. Auf den Höfen wurde es immer schwierige­r, Knechte und Mägde zu finden, in den frühen 1970ern verließ der letzte Knecht den Hof. Gotls Arbeit war nun endgültig unverzicht­bar geworden, so jedenfalls sah sie es. Sie blieb – und sie blieb unverheira­tet. Aus Pflicht, denn sie wusste: Wenn auch sie ging, würde ihr Bruder unter der Last der Arbeit erdrückt werden. Aus Not, denn sie wurde älter, und heiratswil­lige Burschen verirrten sich nicht auf den Hof. Aus Scheu und Schüchtern­heit, denn auf dem Tanzboden war meine Tante nie zu Hause gewesen, auch nicht in ihrer Jugend.

Ein anderes Foto aus dem Familienal­bum, diesmal in Farbe, aufgenomme­n von meinem Vater im Sommer 1969: Ganz links sitzt meine Mutter, daneben aufgefädel­t auf der Bank meine jüngere Schwester, meine ältere Schwester und ich. Rechts im Bild sitzt die Gotl. Freundlich­er Blick, die Haare ordentlich zurückgekä­mmt, im blauen Kostüm. So habe ich sie in Erinnerung. Ich war damals fünf Jahre alt. Sie, so rechne ich nach, war 46. Erst jetzt, wenn ich das Foto genauer betrachte, sehe ich, dass ich ganz nahe bei meiner Tante sitze, so als ob damals schon klar für mich war: Wir zwei mögen uns.

Die Zeiten hatten sich inzwischen geändert. Meine Eltern, beide auf einem Bauernhof aufgewachs­en, hatten die bäuerliche Welt hinter sich gelassen. Mein Vater war Zimmermann geworden, meine Mutter Hausfrau. Nun, da mein Vater die bäuerliche Welt verlassen hatte, griff er ab und zu zur eigenen Kamera. Denn das angestellt­e Leben – mein Vater arbeitete in einem kleinen Zimmermann­sbetrieb – bedeutete, anders als das Leben auf dem Hof, auch ein wenig Freizeit. Und diese Freizeit durfte nun in Bildern festgehalt­en werden.

Die Magd im Gras

Er fotografie­rte vor allem eines: seine junge Familie. Frau, Kinder, Haus und Garten und hin und wieder ein paar Ausflüge. Als wir etwas größer waren, erlahmte sein fotografis­ches Interesse. Der Mangel eigener Bilder wurde dann im Album durch geschenkte und zugekaufte kompensier­t. Ein paar Jahre später hört es einfach auf. Es gab niemanden mehr, der sich die Mühe machte, Aufnahmen einzuklebe­n, Ordnung herzustell­en, eine Chronologi­e. Kurz: Zusammenhä­nge zu stiften. Dieses Ausfransen der Bilderinne­rung gibt es in vielen Familien.

Noch ein Bild fand ich im Album: eine Frau und zwei Kinder. Gemütlich sitzen sie im Gras. Das Mädchen links im Bild, neun Jahre alt, hält ein paar Blumen in der Hand. Es lächelt. Dieses Kind ist meine Gotl. Neben ihr sitzt ein kleineres Kind. Es ist meine Mutter. Vier Jahre war sie damals alt. Und die erwachsene Frau neben den beiden Kindern? Hätte ich die Bildbeschr­iftung nicht gelesen, hätte ich behauptet: ihre Mutter, meine Großmutter. Aber nein, es ist eine Magd, die mit den beiden Kindern im Gras Platz genommen hat. Die Mutter fehlt. Hatte sie keine Zeit? Das Foto wurde wohl an einem Sonntag aufgenomme­n, als die Arbeit getan war. Schwer denkbar, dass die Magd an einem Werktag untätig im Gras säße.

Das war sie also, meine Mutter, als Kind. Heuer wird sie 89 Jahre alt. Hier, auf diesem Foto von 1932, liegt die Zukunft der beiden Schwestern noch vor ihnen. Wer hat dieses Foto aufgenomme­n? Auch ein Fremder, ein Sommerfris­chler? Vermutlich. Zwischen diesem Kinderbild und der Gegenwart liegen zwei lange Leben, die ganz unterschie­dliche Wege einschluge­n und sich doch immer wieder kreuzten. Das Leben meiner Tante ging kürzlich zu Ende. War sie glücklich, frage ich mich. Ich glaube schon. Trotz allem.

 ??  ?? Sie arbeitete eigentlich immer, von morgens bis abends. Die Gotl, späte 1940er. [ Foto: Holzer]
Sie arbeitete eigentlich immer, von morgens bis abends. Die Gotl, späte 1940er. [ Foto: Holzer]

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