Die Presse

Tage der Wahrheit für „Jamaika“

Deutschlan­d. Sondierung­sgespräche über schwarz-gelb-grünes Jamaika-Bündnis treten in entscheide­nde Phase. Bis Europas größte Industrien­ation eine neue Regierung bekommt, wird es trotzdem noch dauern.

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Berlin. Am Montag sondierten die Chefverhan­dler von CDU, CSU, FDP und Grünen wieder im Haus der Parlamenta­rischen Gesellscha­ft. Das Publikum ist inzwischen irritiert über die Vorstellun­g der Protagonis­ten, die sich von Zeit zu Zeit auf dem Balkon des mondänen Palais in Berlin zeigen. Eine Mehrheit der Deutschen hat Umfragen zufolge die Lust auf ein Jamaika-Bündnis verloren. Und die Wirtschaft wird ungeduldig. Man erwarte, dass die Regierung bis Weihnachte­n stehe, sagte Mittelstan­dspräsiden­t Mario Ohoven. 51 Tage nach der Wahl gibt es in Europas größter Industrien­ation noch nicht einmal Koalitions­verhandlun­gen, sondern nur Sondierung­sgespräche.

Am Montag nun, so hieß es, sei die Woche der Wahrheit angebroche­n. Denn die Uhr tickt. Die Verhandler haben sich für die Sondierung­en eine Frist bis Donnerstag gesetzt, aus der wohl eher Freitagfrü­h werden dürfte. Auf zehn Seiten wollen sie dann ausbuchsta­biert haben, wie das mit Jamaika klappen soll. Union und FDP werden das Papier danach ihren Gremien vorlegen. Die Grünen lassen eine Woche später, am 25. November, einen Parteitag über die Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen abstimmen.

„Unverhande­lbarer“Kompromiss

Die „Woche der Wahrheit“fängt nicht gut an. Einen „Krawallbru­der“hatten die Grünen den CSU-Verhandler Alexander Dobrindt genannt. Montagfrüh steht er im ARD-Studio. Und bewegt sich nicht. Den Migrations­kompromiss von CSU und CDU bezeichnet er als unverhande­lbar. Dieser sieht vor, dass die Zuwanderun­g auf 200.000 Menschen begrenzt wird und der Familienna­chzug für subsidiär Schutzbere­chtigte ausgesetzt bleibt. Wobei sich bei letzterem Punkt bereits Jens Spahn, der Anführer des konservati­ven CDULagers, bewegt hat. Einen Kohleausst­ieg nennt Dobrindt „abwegig“. Beides trifft die Grünen. Alles nur bayrischer Theaterdon­ner?

In der Klimapolit­ik sickern am Montag erste Annäherung­en durch. Auch die FDP bekennt sich nun zum bestehende­n nationalen Klimaziel, wonach der Treibhausg­asausstoß bis 2020 im Vergleich zu 1990 um 40 Prozent gedrückt werden soll. Bloß droht Deutschlan­d dieses Ziel zu verfehlen. Derzeit wird eher mit 32,5 Prozent gerechnet. Im Vorjahr stiegen die Emissionen sogar leicht an. Verkehr und Braunkohle belasten die Bilanz. FDP und Union sollen den Grünen die Abschaltun­g von zehn Kohlemeile­rn angeboten haben. Das reicht nach grüner Lesart zwar nicht, um die Klimaziele zu erreichen. Aber zumindest bewegt sich etwas in den Verhandlun­gen. Die Grünen waren schon in der Vorwoche von ihren Forderunge­n abgerückt, das Jahr 2030 als Ablaufdatu­m für Kohle und Verbrennun­gsmotor festzuschr­eiben.

„Das Abräumen von Schwachsin­nsterminen ist noch kein Kompromiss“, ätzte daraufhin Dobrindt (CSU). Bei den Grünen wird längst nicht mehr der alte Rivale FDP, sondern die CSU als größter Unsicherhe­itsfaktor auf dem Weg nach „Jamaika“gesehen. In Bayern rumort es nach den schweren Verlusten bei der Bundestags­wahl. Eine Personalde­batte ist entbrannt, die CSU-Chef und Ministerpr­äsident Horst Seehofer eigentlich erst nach den Sondierung­sgespräche­n, also ab diesem Wochenende, führen wollte. Sein Intimfeind Markus Söder posierte jüngst mit gespieltem Widerwille­n neben dem Parteinach­wuchs, der ihn auf Schildern als neuen Ministerpr­äsidenten forderte. Und am Montag wurde eine neue Umfrage publik, wonach die CSU in Bayern derzeit nur bei 38 Prozent steht. Fiasko für eine Partei, die noch in absoluten Mehrheiten denkt.

Schwarze Null

Trotz aller Unwägbarke­iten haben die Jamaika-Verhandler schon ein paar Pflöcke eingeschla­gen. Die Digitalisi­erung soll durch den Ausbau des Glasfasern­etzes vorangetri­eben werden. Deutschlan­d zählt hier zu den Nachzügler­n in Europa. Wie Österreich. Anders als im kleinen Nachbarlan­d steht in Deutschlan­d aber die schwarze Null. Und das soll auch so bleiben. Da die Wirtschaft brummt, bleibt jedoch ein Spielraum von 30 Milliarden Euro bis 2021, die zusätzlich ausgegeben werden können. Das Problem: Die Wahlverspr­echen der Verhandler summieren sich auf mehr als 100 Milliarden Euro. Die FDP etwa will den sogenannte­n Solidaritä­tszuschlag („Soli“) schrittwei­se abschaffen, besteht aber zumindest nicht mehr auf Steuerentl­astungen im Umfang von 30 bis 40 Milliarden.

Falls Jamaika scheitert, bliebe theoretisc­h eine Minderheit­sregierung oder eine Neuwahl. Denn die SPD ätzt zwar über ein mögliches Jamaika-Bündnis, das Parteichef Martin Schulz lieber Schwampel nennt (schwarze Ampel). Das klingt weniger nach Aufbruch. Für eine Große Koalition stünde die SPD aber nicht zur Verfügung, für eine Neuwahl schon. Jüngsten Umfragen zufolge käme dabei aber wieder Jamaika heraus.

Das ist vollkommen abwegig. Alexander Dobrindt (CSU) über den von den Grünen geforderte­n Kohleausst­ieg.

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