Tage der Wahrheit für „Jamaika“
Deutschland. Sondierungsgespräche über schwarz-gelb-grünes Jamaika-Bündnis treten in entscheidende Phase. Bis Europas größte Industrienation eine neue Regierung bekommt, wird es trotzdem noch dauern.
Berlin. Am Montag sondierten die Chefverhandler von CDU, CSU, FDP und Grünen wieder im Haus der Parlamentarischen Gesellschaft. Das Publikum ist inzwischen irritiert über die Vorstellung der Protagonisten, die sich von Zeit zu Zeit auf dem Balkon des mondänen Palais in Berlin zeigen. Eine Mehrheit der Deutschen hat Umfragen zufolge die Lust auf ein Jamaika-Bündnis verloren. Und die Wirtschaft wird ungeduldig. Man erwarte, dass die Regierung bis Weihnachten stehe, sagte Mittelstandspräsident Mario Ohoven. 51 Tage nach der Wahl gibt es in Europas größter Industrienation noch nicht einmal Koalitionsverhandlungen, sondern nur Sondierungsgespräche.
Am Montag nun, so hieß es, sei die Woche der Wahrheit angebrochen. Denn die Uhr tickt. Die Verhandler haben sich für die Sondierungen eine Frist bis Donnerstag gesetzt, aus der wohl eher Freitagfrüh werden dürfte. Auf zehn Seiten wollen sie dann ausbuchstabiert haben, wie das mit Jamaika klappen soll. Union und FDP werden das Papier danach ihren Gremien vorlegen. Die Grünen lassen eine Woche später, am 25. November, einen Parteitag über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen abstimmen.
„Unverhandelbarer“Kompromiss
Die „Woche der Wahrheit“fängt nicht gut an. Einen „Krawallbruder“hatten die Grünen den CSU-Verhandler Alexander Dobrindt genannt. Montagfrüh steht er im ARD-Studio. Und bewegt sich nicht. Den Migrationskompromiss von CSU und CDU bezeichnet er als unverhandelbar. Dieser sieht vor, dass die Zuwanderung auf 200.000 Menschen begrenzt wird und der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ausgesetzt bleibt. Wobei sich bei letzterem Punkt bereits Jens Spahn, der Anführer des konservativen CDULagers, bewegt hat. Einen Kohleausstieg nennt Dobrindt „abwegig“. Beides trifft die Grünen. Alles nur bayrischer Theaterdonner?
In der Klimapolitik sickern am Montag erste Annäherungen durch. Auch die FDP bekennt sich nun zum bestehenden nationalen Klimaziel, wonach der Treibhausgasausstoß bis 2020 im Vergleich zu 1990 um 40 Prozent gedrückt werden soll. Bloß droht Deutschland dieses Ziel zu verfehlen. Derzeit wird eher mit 32,5 Prozent gerechnet. Im Vorjahr stiegen die Emissionen sogar leicht an. Verkehr und Braunkohle belasten die Bilanz. FDP und Union sollen den Grünen die Abschaltung von zehn Kohlemeilern angeboten haben. Das reicht nach grüner Lesart zwar nicht, um die Klimaziele zu erreichen. Aber zumindest bewegt sich etwas in den Verhandlungen. Die Grünen waren schon in der Vorwoche von ihren Forderungen abgerückt, das Jahr 2030 als Ablaufdatum für Kohle und Verbrennungsmotor festzuschreiben.
„Das Abräumen von Schwachsinnsterminen ist noch kein Kompromiss“, ätzte daraufhin Dobrindt (CSU). Bei den Grünen wird längst nicht mehr der alte Rivale FDP, sondern die CSU als größter Unsicherheitsfaktor auf dem Weg nach „Jamaika“gesehen. In Bayern rumort es nach den schweren Verlusten bei der Bundestagswahl. Eine Personaldebatte ist entbrannt, die CSU-Chef und Ministerpräsident Horst Seehofer eigentlich erst nach den Sondierungsgesprächen, also ab diesem Wochenende, führen wollte. Sein Intimfeind Markus Söder posierte jüngst mit gespieltem Widerwillen neben dem Parteinachwuchs, der ihn auf Schildern als neuen Ministerpräsidenten forderte. Und am Montag wurde eine neue Umfrage publik, wonach die CSU in Bayern derzeit nur bei 38 Prozent steht. Fiasko für eine Partei, die noch in absoluten Mehrheiten denkt.
Schwarze Null
Trotz aller Unwägbarkeiten haben die Jamaika-Verhandler schon ein paar Pflöcke eingeschlagen. Die Digitalisierung soll durch den Ausbau des Glasfasernetzes vorangetrieben werden. Deutschland zählt hier zu den Nachzüglern in Europa. Wie Österreich. Anders als im kleinen Nachbarland steht in Deutschland aber die schwarze Null. Und das soll auch so bleiben. Da die Wirtschaft brummt, bleibt jedoch ein Spielraum von 30 Milliarden Euro bis 2021, die zusätzlich ausgegeben werden können. Das Problem: Die Wahlversprechen der Verhandler summieren sich auf mehr als 100 Milliarden Euro. Die FDP etwa will den sogenannten Solidaritätszuschlag („Soli“) schrittweise abschaffen, besteht aber zumindest nicht mehr auf Steuerentlastungen im Umfang von 30 bis 40 Milliarden.
Falls Jamaika scheitert, bliebe theoretisch eine Minderheitsregierung oder eine Neuwahl. Denn die SPD ätzt zwar über ein mögliches Jamaika-Bündnis, das Parteichef Martin Schulz lieber Schwampel nennt (schwarze Ampel). Das klingt weniger nach Aufbruch. Für eine Große Koalition stünde die SPD aber nicht zur Verfügung, für eine Neuwahl schon. Jüngsten Umfragen zufolge käme dabei aber wieder Jamaika heraus.
Das ist vollkommen abwegig. Alexander Dobrindt (CSU) über den von den Grünen geforderten Kohleausstieg.