Menschenhirn in Mäuseschädel
Molekularbiologie. In mindestens zwei US-Labors werden Nagetiere gehalten, in deren Gehirne Minigehirne von Menschen eingepflanzt wurden. Eine Debatte darüber gab es nicht.
Was geht wohl in Lebewesen vor sich, die Gehirne anderer Lebewesen in sich haben? So etwas gab es in der Fantasie der Antike – Chimären wie den Sphinx –, so etwas gab es als Gänsehautmacher der Neuzeit – nächstes Jahr wird die Ausgeburt des Dr. Frankenstein 200 Jahre alt, sie wurde 1818 zunächst anonym publiziert –, so etwas gibt es heute in der Realität: In mindestens zwei Labors werden Mäuse und Ratten gehalten, in deren Gehirne Minigehirne von Menschen implantiert wurden.
Präsentiert wurden sie am Wochenende beim Jahrestreffen der Society for Neuroscience in Washington, in beiden Fällen wird eine Entwicklung weitergeführt, die vor vier Jahren am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) Wien begann. Da gelang es Madeline Lancaster und Jürgen Knoblich, aus induzierten pluripotenten Stammzellen – das sind Körperzellen, die man so verjüngt, dass aus ihnen alle erdenklichen Zelltypen werden können – Minigehirne zu ziehen, sie nannten sie Organoide. Die sind in Teilen so gebaut wie die großen Menschengehirne, sie haben etwa die sechs Zelllagen des Neokortex, in denen die höheren Fähigkeiten sitzen. Und an solchen Laborgewächsen könnte man viele Leiden der großen Gehirne studieren – wenn die Organoide nur nicht so klein wären, größer als Linsen werden sie nicht, vier Millimeter.
Denn sie haben keine Blutgefäße. Mit denen müsste man sie ausstatten, um sie zum Wachsen zu bringen, und ein Weg ist ihre Einpflanzung in Gehirne von Tieren. Von etwas Analogem träumte Irving Weissman (Stanford) schon lange, bevor es Organoide gab, er wollte 2004 Mäuse mit kompletten Gehirnen von Menschen ausstatten, mittels embryonalen Stammzellen. Er versuchte es nie – zumindest wurde nie etwas bekannt –, obwohl er das Okay der Ethikkommission seiner Universität hatte. Hellhörig wurde hingegen die US-Gesundheitsbehörde NIH: Sie verbot der öffentlich geförderten Forschung das Einbringen von embryonalen Stammzellen des Menschen in Gehirne von Tieren.
Ins Wirtsgehirn integriert
An fertige Organoide dachte damals noch niemand, deshalb ist völlig legal, was in den Labors von Fred „Rusty“Gage (Salk Institute) und Isaac Chen (University of Pennsylvania) betrieben wurde: das Einpflanzen von Organoiden in Gehirne von Nagetieren. In die Details gingen die beiden Forscher auf der Tagung nicht – die Experimente sind noch nicht publiziert –, aber klar wurde schon, dass die Minihirne des Menschen sich in die Hirne der Mäuse und Ratten integrierten, sie lebten bis zu zwei Monate lang, wurden mit Blut versorgt und verschalteten sich mit den Zellen der Mäuse/Ratten, ließen verbindende Axonen sprießen, „in verschiedene Regionen des Gastgebergehirns“.
So viel hat Gage verraten. Er ist einer der führenden Hirnforscher, und auch Chen ist kein Dr. Frankenstein, der in jugendlichem Überschwang noch nie gesehene Kreaturen in die Welt setzen will. Allerdings gibt es solche Maus/Mensch-Chimären in zumindest einem weiteren US-Labor, das Journal STAT hat es bemerkt und Gage und Chen damit konfrontiert (6. 11.). Sie waren überrascht, und das ist Teil des Problems: Selbst die Zunft hat keinen Überblick darüber, was alles gemacht wird. Wie sollen da Regulierungsbehörden bzw. Öffentlichkeit hinterherhinken?
„Wir sind dabei, völlig neuen Boden zu betreten“, klagt auch Christof Koch, Präsident eines Instituts für Hirnforschung in Seattle: „Die Wissenschaft macht solche Fortschritte, dass die Ethik nicht mithalten kann.“Zwar beruhigt Chen, es sei Zeit genug, die Organoide seien noch so „primitiv, dass sie Rattengehirne eher schwächen“. Aber nicht nur Bioethiker entgegnen, dass „noch kein Problem“nicht bedeute: „nie ein Problem“. „Ich glaube nicht, dass Organoide in einer Petrischale denken können“, erklärt etwa Neuroforscher Hongjun Song (University of Pennsylvania): „Aber es ist eine Frage, die wir debattieren müssen.“
Dabei gehe es nicht nur darum, ob so etwas Vermenschlichtem „Würde und Respekt“gebühren, detailliert Hank Greeley, Bioethiker in Stanford, sondern auch darum, „was es überhaupt bedeutet“.