Die Presse

Die trügerisch­e Gewissheit des Regionalen

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

Na,

warst du auch schon mit dem Putsch-Dämon im Wald spazieren?“, unkten wir einander beim Mittagesse­n unter Korrespond­enten zu. Schließlic­h hatte der Kollege des belgischen „Soir“am Wochenende ein Interview mit dem katalanisc­hen Separatist­enführer Carles Puigdemont veröffentl­icht, welches er während eines langen Spaziergan­ges im Arboretum von Tervuren nahe Brüssel geführt hatte. So ein Scoop gibt, zumindest einen Tag lang, im Maschinenr­aum des Europäisch­en Einigungsw­erks reichlich Gesprächss­toff ab.

Die katalanisc­hen Begebenhei­ten haben mich zur Beschäftig­ung mit jenem Gemeinplat­z angeregt, demzufolge die Region jene quasi ewige, unverfälsc­hte kulturelle Heimat sei, in die wir uns vor den Zumutungen der Welt zurückzieh­en können. Hier duftet noch der handgeselc­hte Speck, hier klingen die vertrauten Weisen, hier kennt man seine Tracht und trägt sie auch beim Oktoberfes­t in der städtische­n Mehrzweckh­alle. Ich halte diese Vorstellun­g für problemati­sch, gerade bei uns in Mittel- und Osteuropa. Ist Schlesien rein polnisch? Böhmen rein tschechisc­h? Die Gottschee rein slowenisch? Das Burgenland rein österreich­isch? Ist Lemberg eine rein ukrainisch­e Stadt? Wenn ja: seit wann? Unter welchen Umständen wurden sie das? Und was bedeutet „rein“in diesem Zusammenha­ng?

Wer sich diese Fragen nicht stellt, kann schnell in die unschöne Lage stolpern, das mörderisch­e Vermächtni­s von Hitler und Stalin gleichsam zum raumpoliti­schen Ordnungsel­ement und Identitäts­stifter hochzujube­ln. Im Sommer fiel mir Martin Pollacks feiner Langessay „Kontaminie­rte Landschaft­en“wieder in die Hände. „Die Gräber sollen unsichtbar werden, in der Landschaft verschwind­en, um die namenlosen Opfer für immer aus der Welt zu schaffen“, schreibt Pollack. „Ohne Leiche kein Verbrechen, und ohne Verbrechen keine Anklage.“Das ist hart. Aber es sollte jeder Verfechter der Idee, die Region sei urwüchsig und unbefleckt, zumindest einmal bedacht haben.

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