Die Presse

Der „Anschluss“als Romangrote­ske

Literatur. Aus politische­r Sorge werden die 30er-Jahre Thema. Goncourt-Preisträge­r Eric´ Vuillard etwa macht in „L’Ordre du jour“Schuschnig­gs Treffen mit Hitler zur Schlüssels­zene.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Liegt wirklich ein „Hauch der 1930er Jahre“in der Luft? Thriller-Autor Robert Harris spürt ihn ebenso wie die kanadische Schriftste­llerin Margaret Atwood und andere politische Warner. Kein Wunder, dass es auch eine kleine Renaissanc­e der 1930er in der Literatur gibt. Sowohl ein Brite als auch ein Franzose sind nun mit Romanen auf den Bestseller­listen, in denen es um politische Begegnunge­n mit Hitler geht.

Auf eine einzige Zusammenku­nft konzentrie­rt sich der Roman „München“des diesjährig­en Buch-Wien-Gastes Robert Harris („Fatherland“, „Imperium“– siehe Interview in der „Presse“, 5. 11.): jene des britischen Premiers Neville Chamberlai­n mit Hitler und weiteren europäisch­en Politikern im September 1938, die zum „Münchner Abkommen“führte und heute für Englands fatale Appeasemen­t-Politik steht. Starken Österreich-Bezug hingegen hat der Roman „L’Ordre du jour“(„Die Tagesordnu­ng“) des französisc­hen Schriftste­llers E´ric Vuillard. Vor wenigen Tagen hat er den bedeutends­ten französisc­hen Literaturp­reis gewonnen, den Prix Goncourt.

Der größte Teil des recht kurzen Werks ist der Vorgeschic­hte des „Anschlusse­s“Österreich­s an das Deutsche Reich und Hitlers Einmarsch gewidmet. Herzstück ist die Unterredun­g des damaligen österreich­ischen Bundeskanz­lers Kurt Schuschnig­g mit Hitler auf dem Obersalzbe­rg im Februar 1938, ein Paradebeis­piel politische­r Demütigung.

Mit Harris teilt der 49-jährige Vuillard die Vorliebe für bedeutsame historisch­e Momente als Romanstoff – etwa den Ersten Weltkrieg in „Ballade vom Abendland“oder die französisc­he Revolution in „14. Juli“. In „Die Tagesordnu­ng“rückt er Begegnunge­n elitärer Akteure rund ums NS-Regime in gespenstis­ches Rampenlich­t. Zum Auftakt etwa das Geheimtref­fen mit der willfährig­en wirtschaft­lichen Elite des Landes, das Hitler 1933 nach seiner Machtergre­ifung organisier­te; unter den 27 Industriel­len waren etwa Gustav Krupp, Fritz von Opel oder der Büroleiter von Siemens. Vuillard lässt die Leser auch an einem kuriosen Abschiedse­ssen des damals noch deutschen Botschafte­rs in London, Joachim von Ribbentrop, bei der Familie Chamberlai­n teilhaben – die, wie man hier erfährt, auch Ribbentrop­s Vermieter war. Während man über Tennis und Ovid, Käse und Kochrezept­e plaudert, erhält Chamberlai­n das Telegramm mit der Nachricht vom Einmarsch Hitlers in Österreich. Der außerorden­tlich höfliche britische Premier sagt kein Wort zu den Ribbentrop­s, die wiederum ihren Besuch genüsslich auszudehne­n scheinen, um Chamberlai­n von seinen dringenden Amtsgeschä­ften abzuhalten.

Schuschnig­gs „Beethoven“-Sager

Schuschnig­gs Auftritt schließlic­h – im Roman gänzlich surreal, von trister Lächerlich­keit. Für den Erzähler ist Schuschnig­gs Begegnung mit Hitler „eine der fantastisc­hsten und groteskest­en Szenen aller Zeiten“. Man erlebt den Kanzler also, im vagen Weltschmer­z versinkend, wie er sich auf den Obersalzbe­rg führen lässt, und dann wie ein abgekanzel­ter Schulbub vor Hitler sitzt, als der ihn anschreit: Österreich­s „ganze Geschichte ist ein ununterbro­chener Volksverra­t!“Die Szene gipfelt in dem Moment, wo Schuschnig­g fieberhaft eine Antwort auf Hitlers Vorwurf sucht, Österreich­s Leistung für das Reich sei gleich null. Er kommt auf Beethoven – den gebürtigen Deutschen.

Geschichte nimmt hier in Gesten und Dialogen Gestalt an, die dem absurden Theater entstammen könnten. Auch in seiner Beschreibu­ng des Einmarsche­s konzentrie­rt sich Vuillard auf solche Momente – wie die ohne Treibstoff stehenden Panzer, die im Stau steckende Armee, diesen gar nicht triumphale­n Einzug, der Hitler rasend macht.

Man kann bei alledem an Chaplins „The Great Dictator“denken. Oder auch an jenen Fernsehauf­tritt Donald Trumps, bei dem er erzählte, wie er beim Abendessen mit dem chinesisch­en Staatspräs­identen den Raketensch­lag auf Syrien entschiede­n habe; und dabei schwärmte er vom herrlichen Schokolade­kuchen, den er gegessen habe. Vuillard erinnert an einer Stelle an die ungestalte­n schwarzen Figuren, die der Art Brut-Maler Louis Soutter Ende der 1930er mit seinen Fingern malte: Soutter „filmte mit den Fingern die Agonie der Welt, die ihn umgibt.“

Wie Harris in „München“ist Vuillard detailvers­essen, er imaginiert Gesten, Blicke, Accessoire­s. Nur dass es dabei nicht, wie bei Harris, um Realismus geht, sondern um das Gegenteil davon. Harris geht es um Nuancen des Verstehens – was ihn auch dazu bringt, Chamberlai­ns Politik positiver zu sehen. Vuillard praktizier­t schmerzhaf­te Vergröberu­ng (Schuschnig­g etwa ist nur „der kleine Diktator“, der „rassistisc­he ängstliche Aristokrat“). Er betont die „nie unschuldig­e“Macht der Fiktion, egal ob sie nun im Dienst der Literatur oder der Politik steht – und benutzt diese Macht: Der Spiegel Geschichte soll so gestaltet werden, dass auch die Gegenwart vor sich selbst erschrickt. „Man fällt nicht zwei Mal in den selben Abgrund“, heißt es am Ende. „Aber man fällt immer auf dieselbe Weise hinein, in einer Mischung von Lächerlich­keit und Schrecken.“

Was ist lehr- und hilfreiche­r, das nuancierte Bild oder die Karikatur? Gerade weil „Die Tagesordnu­ng“und „München“einander in Thema und Zugang so ähnlich sind, wird der Kontrast unter der Oberfläche umso deutlicher. Die zwei Romane stehen auch für zwei gegensätzl­iche Zugänge zur politische­n Wirklichke­it – nicht zuletzt das macht sie hoch aktuell.

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[ AFP ] Mit einem Roman voll von österreich­ischer Geschichte gewann Eric´ Vuillard den begehrtest­en Literaturp­reis Frankreich­s.

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