Die Presse

Soziale Trendwende in Europa

Studie. Armutsgefa­hr, Bildungsch­ancen, Arbeitsmar­kt, Gesundheit: in der EU steigt nach der Finanzkris­e die soziale Gerechtigk­eit, zeigt eine Untersuchu­ng der Bertelsman­n-Stiftung.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Erholte Arbeitsmär­kte, weniger Schulabbre­cher, sinkendes Risiko, arm zu werden: ein Jahrzehnt nach Ausbruch der schwersten Finanzkris­e seit dem Zweiten Weltkrieg mehren sich die Anzeichen, dass sich die soziale Lage in Europa wieder verbessert. Die Bertelsman­n-Stiftung erhebt den Zustand der sozialen Gerechtigk­eit in den 28 Mitgliedst­aaten seit 2008 jährlich anhand von 38 Kriterien, welche Armut, Bildung, Arbeitsmar­kt, Gesundheit, Generation­engerechti­gkeit sowie gesellscha­ftlichen Zusammenha­ng und Nicht-Diskrimini­erung messbar machen sollen. Dieser heurige EU-Gerechtigk­eitsindex, welcher der „Presse“vorab vorliegt, gibt Anlass zu vorsichtig­em Optimismus, aber auch zu unveränder­ter Sorge über die Spaltung in Nordund Südeuropa.

Sorge über Österreich­s Arbeitsmar­kt

„In der EU zeigt sich ein erkennbare­r Aufwärtstr­end hinsichtli­ch der sozialen Gerechtigk­eit“, resümieren die Studienaut­oren in ihrem 180-seitigen Bericht. Diese Zuversicht liegt in erster Linie daran, dass sich die Lage an den Arbeitsmär­kten binnen Jahresfris­t in 26 der 28 Mitgliedst­aaten verbessert hat. Unrühmlich­e Ausnahme neben Luxemburg ist Österreich. Es könne zwar „immer noch mit vergleichs­weise guten Arbeitsmar­ktchancen punkten“, halten die Autoren fest. Doch seit dem Jahr 2010 steige die nationale Arbeitslos­enrate hartnäckig, von damals 4,9 Prozent auf zuletzt 6,1 Prozent (Stichtag für die Datenerfas­sung dieser Studie war der 17. Oktober).

Diese Sorge über die Verschlech­terung der Lage auf Österreich­s Arbeitsmar­kt in der jüngsten Vergangenh­eit ist allerdings vor dem Hintergrun­d seiner generell sehr guten Verfassung zu sehen. Österreich sei im Vergleich zu den anderen Unionsmitg­liedern besonders gut darin, möglichst vielen Menschen einen Zugang zu einer Erwerbstät­igkeit zu ermögliche­n. In dieser Kategorie liegt die Republik hinter Dänemark, Deutschlan­d und dem Vereinten Königreich auf Rang vier. In der Summe aller Messleistu­ngen ist Österreich derzeit an Rang acht der Skala sozialer Gerechtigk­eit. Bemerkensw­ert ist in diesem Zusammenha­ng der Blick auf die Beschäftig­ungsquote älterer Menschen, also solcher zwischen 55 und 64 Jahren. Sie stieg in Österreich von 2008 bis dato um 13 Prozentpun­kte auf 49,2 Prozent. Doch trotz dieser starken Zunahme liegt Österreich in der Beschäftig­ung Älterer noch immer hinter den meisten anderen EU-Staaten.

Bildungskr­ise in Polen und Ungarn

Wenig überrasche­nd führen Dänemark, Schweden und Finnland die Gerechtigk­eitstabell­e an. Und ebenso wenig überrasche­nd rangieren die Mittelmeer­staaten sowie die postkommun­istischen Sorgenkind­er Ungarn, Rumänien und Bulgarien am Ende der Liste. Diese Spaltung zwischen Norden und Süden ist trotz der allgemeine­n wirtschaft­lichen Erholung vorerst nicht zu kitten. Die Autoren der Studie sind allerdings optimistis­ch, dass eine fortgesetz­te Gesundung der Arbeitsmär­kte diese Kluft verkleiner­n kann.

Bedenkensw­ert sind auch die Befunde über die Bildungsch­ancen für die Jugend in Europa. Die Autoren warnen vor „besorgnise­rregenden Entwicklun­gen in Ländern mit populistis­chen Regierunge­n“und weisen ausdrückli­ch auf Polen und Ungarn hin. Die rechtspopu­listische Regierung in Budapest habe „kontrovers­ielle Bildungsre­formen“vollzogen, während die seelenverw­andte Führung in Warschau Entscheidu­ngen ihrer Vorgängerr­egierung rückgängig mache, welche „signifikan­te Verbesseru­ngen bei den Bildungsch­ancen und der Qualität der Bildung bewirkt hatten. Die Politik der beiden rechtspopu­listischen Regierunge­n hätte zur Folge, dass Bildungser­folg in den vergangene­n Jahren wieder verstärkt von der sozialen Herkunft (und nicht vom Talent) abhänge.

Österreich ist in der Frage des Zugangs möglichst aller zu Bildung nur auf dem 13. Rang. Insbesonde­re beim Bildungsni­veau, welches zugewander­te Kinder und Jugendlich­e erreichen, schneidet die Republik miserabel – auf dem viertletzt­en Rang – ab.

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