Soziale Trendwende in Europa
Studie. Armutsgefahr, Bildungschancen, Arbeitsmarkt, Gesundheit: in der EU steigt nach der Finanzkrise die soziale Gerechtigkeit, zeigt eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung.
Brüssel. Erholte Arbeitsmärkte, weniger Schulabbrecher, sinkendes Risiko, arm zu werden: ein Jahrzehnt nach Ausbruch der schwersten Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg mehren sich die Anzeichen, dass sich die soziale Lage in Europa wieder verbessert. Die Bertelsmann-Stiftung erhebt den Zustand der sozialen Gerechtigkeit in den 28 Mitgliedstaaten seit 2008 jährlich anhand von 38 Kriterien, welche Armut, Bildung, Arbeitsmarkt, Gesundheit, Generationengerechtigkeit sowie gesellschaftlichen Zusammenhang und Nicht-Diskriminierung messbar machen sollen. Dieser heurige EU-Gerechtigkeitsindex, welcher der „Presse“vorab vorliegt, gibt Anlass zu vorsichtigem Optimismus, aber auch zu unveränderter Sorge über die Spaltung in Nordund Südeuropa.
Sorge über Österreichs Arbeitsmarkt
„In der EU zeigt sich ein erkennbarer Aufwärtstrend hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit“, resümieren die Studienautoren in ihrem 180-seitigen Bericht. Diese Zuversicht liegt in erster Linie daran, dass sich die Lage an den Arbeitsmärkten binnen Jahresfrist in 26 der 28 Mitgliedstaaten verbessert hat. Unrühmliche Ausnahme neben Luxemburg ist Österreich. Es könne zwar „immer noch mit vergleichsweise guten Arbeitsmarktchancen punkten“, halten die Autoren fest. Doch seit dem Jahr 2010 steige die nationale Arbeitslosenrate hartnäckig, von damals 4,9 Prozent auf zuletzt 6,1 Prozent (Stichtag für die Datenerfassung dieser Studie war der 17. Oktober).
Diese Sorge über die Verschlechterung der Lage auf Österreichs Arbeitsmarkt in der jüngsten Vergangenheit ist allerdings vor dem Hintergrund seiner generell sehr guten Verfassung zu sehen. Österreich sei im Vergleich zu den anderen Unionsmitgliedern besonders gut darin, möglichst vielen Menschen einen Zugang zu einer Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. In dieser Kategorie liegt die Republik hinter Dänemark, Deutschland und dem Vereinten Königreich auf Rang vier. In der Summe aller Messleistungen ist Österreich derzeit an Rang acht der Skala sozialer Gerechtigkeit. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Blick auf die Beschäftigungsquote älterer Menschen, also solcher zwischen 55 und 64 Jahren. Sie stieg in Österreich von 2008 bis dato um 13 Prozentpunkte auf 49,2 Prozent. Doch trotz dieser starken Zunahme liegt Österreich in der Beschäftigung Älterer noch immer hinter den meisten anderen EU-Staaten.
Bildungskrise in Polen und Ungarn
Wenig überraschend führen Dänemark, Schweden und Finnland die Gerechtigkeitstabelle an. Und ebenso wenig überraschend rangieren die Mittelmeerstaaten sowie die postkommunistischen Sorgenkinder Ungarn, Rumänien und Bulgarien am Ende der Liste. Diese Spaltung zwischen Norden und Süden ist trotz der allgemeinen wirtschaftlichen Erholung vorerst nicht zu kitten. Die Autoren der Studie sind allerdings optimistisch, dass eine fortgesetzte Gesundung der Arbeitsmärkte diese Kluft verkleinern kann.
Bedenkenswert sind auch die Befunde über die Bildungschancen für die Jugend in Europa. Die Autoren warnen vor „besorgniserregenden Entwicklungen in Ländern mit populistischen Regierungen“und weisen ausdrücklich auf Polen und Ungarn hin. Die rechtspopulistische Regierung in Budapest habe „kontroversielle Bildungsreformen“vollzogen, während die seelenverwandte Führung in Warschau Entscheidungen ihrer Vorgängerregierung rückgängig mache, welche „signifikante Verbesserungen bei den Bildungschancen und der Qualität der Bildung bewirkt hatten. Die Politik der beiden rechtspopulistischen Regierungen hätte zur Folge, dass Bildungserfolg in den vergangenen Jahren wieder verstärkt von der sozialen Herkunft (und nicht vom Talent) abhänge.
Österreich ist in der Frage des Zugangs möglichst aller zu Bildung nur auf dem 13. Rang. Insbesondere beim Bildungsniveau, welches zugewanderte Kinder und Jugendliche erreichen, schneidet die Republik miserabel – auf dem viertletzten Rang – ab.