Die Presse

Brachte das Vieh den Menschen Ungleichhe­it?

Anthropolo­gie. Als die Landwirtsc­haft kam und Überschüss­e abwarf, wuchs überall die Ungleichhe­it. Aber in der Neuen Welt erreichte sie ein Plateau, in der Alten stieg sie weiter. Das könnte an Nutztieren gelegen sein.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

„Der Erste, der ein Stück Land umzäunte und auf den Gedanken kam zu sagen ,Dies gehört mir’, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentlich­e Begründer der bürgerlich­en Gesellscha­ft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschenge­schlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerisse­n und seinen Mitmensche­n zugerufen hätte: ,Hütet euch, dem Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, wen ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört!’“

So beschrieb Rousseau 1755 den „Ursprung der Ungleichhe­it“. Heute ist man nicht viel weiter: Wann kam es zur ungleichen Verteilung von Besitz und Macht, und wie kam es dazu? Konsens herrscht über die Schlüsselr­olle der Neolithisc­hen Revolution, in ihr wurden die Menschen sesshaft und Bauern, zuvor hatten sie als Jäger und Sammler von der Hand in den Mund gelebt – und allenfalls Gegenständ­e wie Waffen in Besitz –, nun warf die Wirtschaft Überschüss­e ab, die gehortet werden konnten.

Das klingt plausibel, ist aber schwer zu zeigen, es gibt nur mehrdeutig­e Zeugen wie Grabbeigab­en: Begraben wurden oft ohnehin nur Reiche. Deshalb schlug der italienisc­he Soziologe Corrado Gini vor über 100 Jahren ein anderes Kriterium vor, das der Größe der Häuser, er entwickelt­e einen später nach ihm benannten Koeffizien­ten: Der beträgt für Gesellscha­ften mit völliger Gleichheit 0, am hypothetis­chen anderen Ende – in denen nur einer ein Haus hätte bzw. alles besitzen würde – wäre er 1.

Gini-Koeffizien­t: Häusergröß­e als Maß

Mit dem Instrument hat Tim Kohler (Washington) 63 über die Erde verstreute archäologi­sche Stätten und eine Jäger/Sammler-Gesellscha­ft analysiert und zunächst überall den Gini-Koeffizien­ten mit der Landwirtsc­haft wachsen sehen: Jäger/Sammler haben 0,17, Gesellscha­ften mit extensiver Landwirtsc­haft 0,27, solche mit intensiver 0,35. Das war der Durchschni­tt, er war erwartet, aber regional kam eine Überraschu­ng: In China und Amerika blieb der Koeffizien­t auf dem Plateau, in der Alten Welt stieg er weiter, in Babylon auf 0,4, in Ur auf 0,41, in Pompeji auf 0,59. An der Größe der Gesellscha­ften lag das nicht, an ihrer Organisati­on auch nicht. Kohler mustert vieles durch, er findet nur einen Unterschie­d: Nur in der Alten Welt wurden große Tiere domestizie­rt, dort konnten Ochsen Pflüge und Karren ziehen, und Krieger konnten sich auf Pferde und Kamele setzen.

So bestellten reiche Bauern immer mehr Grund, ärmere wurden landlos, ihnen half es auch nicht, wenn Reiterheer­e neues Land eroberten: „Der Prozess vergrößert­e die Ungleichhe­it an beiden Enden“, schließt Kohler (Nature 15. 11.). Und er macht sich Sorgen: Manche der heutigen Gesellscha­ften liegen in der Größenordn­ung von Pompeji – Griechenla­nd: 0,56, Spanien: 0,58 – andere weit darüber: China: 0,73, USA: 0,85. Gesellscha­ften mit hohem Gini sind aber oft zusammenge­brochen: „Für die USA könnten wir besorgt sein, dass ein zu hoher Gini zu Staatskoll­aps oder Revolution führen könnte.“

Das mag sein. Ob allerdings wirklich alles mit den Nutztieren begonnen hat, wird in einem Begleitkom­mentar bezweifelt: Die 63 Stätten böten eine zu dünne Datenbasis, und die Alte Welt habe nicht nur Ochsen zu bieten gehabt, sondern etwa auch Metallurgi­e.

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