Die Presse

Pendel schwingt in Richtung Dezentrali­sierung

Die Konzentrat­ion von immer mehr Macht bei den Zentralreg­ierungen hat zuletzt in vielen Teilen der Welt eine Gegenreakt­ion ausgelöst. Die Bürger plagt das Gefühl, dass ihre Souveränit­ät ausgehöhlt worden ist.

- VON MICHAEL J. BOSKIN Aus dem Englischen von Jan Doolan Copyright: Project Syndicate, 2017 E-Mails an: debatte@diepresse.com

Vor einigen Jahren habe ich prognostiz­iert, dass es – bedingt durch das Versäumnis von politische­n Institutio­nen, wirtschaft­liche, kulturelle, ethnische und religiöse Unterschie­de zu bewältigen – weltweit eine tektonisch­e Verschiebu­ng in Richtung Regionalis­ierung, Sezession und Unabhängig­keit geben würde.

Supranatio­nale wirtschaft­liche und politische Einrichtun­gen, die mehr Macht bei den Zentralreg­ierungen konzentrie­rten, waren eindeutig dabei, eine Gegenreakt­ion auszulösen. In vielen Ländern hatten die Bürger zunehmend das Gefühl, dass ihre Souveränit­ät ausgehöhlt worden war. Und sie machten sich angesichts der langsamen Erholung von der großen Rezession, des geringen Produktivi­tätswachst­ums und des schrumpfen­den Anteils der Arbeit an den Einkommen Sorgen, dass die Kosten der zunehmende­n Einwanderu­ng zu hoch seien.

Trend zu Scheidunge­n

Inzwischen hat sich das Vereinigte Königreich zum Austritt aus der EU entschloss­en. Es laufen nun „Scheidungs­gespräche“, um zu ermitteln, wie viel die Briten der EU zahlen werden und wie die künftigen Handelsbez­iehungen aussehen sollen. Der Prozess ist nicht einfach. Denn die EU-Verhandlun­gsführer fürchten, dass bei zu großzügige­n Austrittsb­edingungen andere Mitgliedst­aaten den Briten folgen und die Union verlassen könnten.

Zugleich haben sich die USA unter Präsident Donald Trump aus der Transpazif­ischen Partnersch­aft zurückgezo­gen und die Transatlan­tische Handels- und Investitio­nspartners­chaft mit der EU (TTIP) aufgegeben. Sie drohen, auch aus dem Nordamerik­anischen Freihandel­sabkommen (Nafta) auszusteig­en, sofern Mexiko und Kanada keine Zugeständn­isse machen.

In Spanien strebte die inzwischen abgesetzte Regierung der halbautono­men Region Katalonien nach Unabhängig­keit und löste eine Staatskris­e aus. Mehr als 90 Prozent derjenigen, die sich an den jüngsten Referenden in der Lombardei und in Venetien, Italiens reichsten Regionen, beteiligte­n, stimmten für mehr Kontrolle über die lokalen Bildungsau­sgaben und Steuern. Dabei hatten diese Wähler mit Sicherheit Italiens enorme Staatsvers­chuldung und seine Subvention­en an ärmere Regionen im Hinterkopf.

Im Irak versucht die Regionalre­gierung Kurdistans nach einem von ihr Ende September abgehalten­en Unabhängig­keitsrefer­endum nun, mit der Zentralreg­ierung in Bagdad zu verhandeln, die Truppen entsandt hat, um die Ölfelder der Region wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Und der chinesisch­e Präsident Xi Jinping hat den 19. Parteitag der chinesisch­en KP genutzt, um seine Position weiter zu konsolidie­ren, indem er mehr Macht von den Provinzen auf die Zentralreg­ierung verlagert.

Selbst in seit Langem für ihre Stabilität bekannten Ländern gibt es eindeutige Spannungen zwischen zentraler und dezentrale­r politische­r Autorität. So versucht derzeit beispielsw­eise eine Gruppe namens Calexit in Kalifornie­n einen Wählerents­cheid über die Abspaltung von den USA durchzuset­zen. Laut ersten Meinungsum­fragen würde ein Drittel der Kalifornie­r eine solche Initiative unterstütz­en. In Europa schiebt die EU, statt ihre Krisen im Bereich der Staatsvers­chuldung, im Bankensekt­or und bei der Arbeitslos­igkeit in Angriff zu nehmen, die Probleme weiterhin auf die lange Bank. Die EU-Regierunge­n hoffen, dass ein moderater zyklischer Aufschwung ihnen Zeit kaufen wird.

Ausweg direkte Demokratie?

Doch letztlich werden sie sich einem Kernproble­m stellen müssen: Deutschlan­d, das am meisten von der Währungsun­ion profitiert hat, in der seine Handelspar­tner keine Währung haben, die sie abwerten können, will nicht die Zeche für die Rettung von verschwen- derischen Mitgliedst­aaten zahlen. Es überrascht also möglicherw­eise nicht, dass laut einer aktuellen Meinungsum­frage des Pew Research Center 70 Prozent der Europäer, Kanadier und Amerikaner eine direktere Demokratie befürworte­n, „bei der die Bürger und nicht gewählte Funktionst­räger über wichtige Fragen abstimmen“. Amerikas Gründervät­er, die die direkte Demokratie als Vorstufe zur Herrschaft des Pöbels betrachtet­en und ein System wechselsei­tiger Kontrollme­chanismen einrichtet­en, um ebendiese zu verhindern, würde dies mit Schrecken erfüllen.

Jedes der oben genannten Beispiele der Zentralisi­erung und Regionalis­ierung ist einzigarti­g. Aber es lohnt sich zu fragen, ob sie Gemeinsamk­eiten aufweisen.

Als der verstorben­e, mit dem Nobelpreis ausgezeich­nete Ökonom Robert Mundell – der „geistige Vater des Euro“– sich aufmachte, einen optimalen Währungsra­um zu konzipiere­n, legte er großes Gewicht auf natürliche­n Handel und gesamtwirt­schaftlich­e Verknüpfun­gen. Als Kanadier fiel ihm die „horizontal­e“Beschaffen­heit der kanadische­n und amerikanis­chen Währungsrä­ume auf. Nach seinem Verständni­s wären „vertikale“Räume, die den kanadische­n und amerikanis­chen Westen umfassten, wirtschaft­lich möglicherw­eise sinnvoller.

Mundells Erkenntnis lässt sich stark verallgeme­inern. Es bilden und vereinen sich infolge widerstrei­tender Zentrifuga­l- und Zentripeta­lkräfte ständig Wirtschaft­sräume und lösen sich wieder auf. Ständige Veränderun­gen bei Wettbewerb­svorteilen, Skaleneffe­kten und Transaktio­nskosten wirken sich auf die Vorteile aus, die es hat, homogenere­n lokalisier­ten Präferenze­n nachzugebe­n.

Genauso verändern sich „optimale“politische Räume im Laufe der Zeit aufgrund des technologi­schen und demografis­chen Wandels und ihrer Interaktio­n mit sich weiterentw­ickelnden kulturelle­n, ethnischen, religiösen und anderen Faktoren. Diese Prozesse des Zusammenko­mmens und Auseinande­rfallens können positiv oder schädlich sein.

Effizient regieren

Die EU ist mit Sicherheit ein großer Erfolg als Handelsrau­m, aber weniger als integriert­er Arbeitsmar­kt und als Währungsun­ion. Und als Banken- und Haushaltsr­aum ist sie komplett gescheiter­t.

Oder man betrachte den indischen Subkontine­nt, wo einander misstrauis­ch beäugende, mit nuklearen Sprengköpf­en bewaffnete Nachbarn eine Gefahr für sich und ihre Nachbarn darstellen.

Angesichts der Tatsache, dass in Indien noch immer fast genauso viele Muslime leben wie in Pakistan, könnte es sein, dass sich die religiösen Spannungen innerhalb der Grenzen eines einzigen Landes hätten reduzieren lassen. Nach meiner Schätzung müsste das Handelsvol­umen zwischen Pakistan und Indien eigentlich 25 Mal höher sein, als es das heute ist. Davon würden beide Länder enorm profitiere­n.

Effizient zu regieren ist in einem Kontext wirtschaft­licher, politische­r, ethnischer und religiöser Vielfalt nicht einfach. Es jedoch nicht zu tun, kann erheblich weniger Wachstum bedeuten – und erheblich größere politische Risken.

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