Die Presse

Wie Regionen sich mehr Gehör verschaffe­n könnten

Gastkommen­tar. Es ist höchste Zeit, dass den Regionen in Europa mehr Selbstbest­immung eingeräumt wird – zum Wohle der Bürger!

- VON MICHAEL BREISKY E-Mails an: debatte@diepresse.com

Wenn das Beispiel Katalonien Schule macht, werden andere folgen – und die EU in eine tiefe, tatsächlic­h existenzbe­drohende Krise stürzen, meint Joschka Fischer in einem europaweit syndiziert­en Kommentar „Europa versus Regionalis­mus“(u. a. auch im „Standard“vom 4. 11.). Formal gesehen hat Fischer völlig recht: Die für operative Entscheidu­ngen maßgeblich­en Ratsformat­ionen sind heute mit 28 Mitglieder­n schon am Rande der Funktionsf­ähigkeit. Ein paar Mitgliedst­aaten mehr – und der Kollaps ist da.

Anders jedoch, wenn man inhaltlich fragt: Wie können sich Regionen auf EU-Ebene mehr Gehör verschaffe­n? Akzeptiert man das Unumstößli­che, dass Ratsformat­ionen nur die Vertreter von Zentralreg­ierungen zulassen, dann geht das auch nur über die Vertretung der Zentralreg­ierungen; das wird im Idealfall die eigene sein. Es ist aber auch denkbar, dass sich Regionen von der Vertretung eines anderen Mitgliedst­aats vertreten lassen.

So zum Beispiel, wenn größere EU-Mitgliedst­aaten starke topografis­che und klimatisch­e Unterschie­de aufweisen, wie das bei Frankreich und Italien der Fall ist: Ihre hochalpine­n Regionen haben ganz besondere Eigenheite­n und Bedürfniss­e, die oft im natürliche­n Gegensatz zu den Interessen der Mehrheit im gesamten Staatsgebi­et stehen. Ähnlich die Interessen von Inseln wie den Balearen, die von Malta wohl besser vertreten würden als von ihrer Festlandre­gierung.

Was die EU-Verträge besagen

EU-Regionen sollten daher wählen können, in welchem Ministerra­t sie sich von welchem Mitgliedst­aat vertreten lassen. Während eine solche Vertretung informelle­r Art unproblema­tisch sein sollte – das Einverstän­dnis der jeweils involviert­en Mitgliedst­aaten vorausgese­tzt – wird es schwierig, wo es um formelle Beschlussf­assungen und die Gewichtung der Stimmrecht­e geht. Auf den ersten Blick erlauben die Europäisch­en Verträge hier keinen Spielraum, denn sie sprechen nur von der Möglichkei­t, dass sich in den Ratsformat­ionen Mitgliedst­aaten durch andere Mitgliedst­aaten vertreten lassen. So besagt Artikel 239 der Europäisch­en Verträge: „Jedes Mitglied kann sich das Stimmrecht höchstens eines anderen Mitglieds übertragen lassen.“

Kreative Interpreta­tionen

Demokratie, Subsidiari­tät und Staatssouv­eränität als Grundprinz­ipien der EU sollten hier jedoch eine kreative Interpreta­tion zulassen: Der Zweck dieser Vertragsbe­stimmung ist ganz offenkundi­g die Verhinderu­ng eines exzessiven Hortens von Stimmrecht­en, wobei offenbleib­t, ob es sich da um einen Mitgliedst­aat mit gleichen, weniger oder mehr Stimmrecht­en handelt. Das kleinste EUMitglied kann also durchaus auch ein Mitglied mit den höchsten Stimmrecht­en vertreten.

Interessan­t ist das Wort höchstens in diesem Artikel: Es impliziert die Möglichkei­t, weniger als ein ganzes Stimmrecht zu übertragen – und kann sinnvoller­weise nur für Teile eines anderen Mitglieds gelten, wie es eben seine Regionen sind.

Also sollte man schon mit der aktuellen Rechtslage auf Regionen bezogene Teile des Stimmrecht­s eines Mitglieds einem anderen Mitglied übertragen können – bis hin zu einer Gesamtsumm­e übertragen­er Stimmrecht­e, wie sie die größten Mitglieder haben! Was die Gewichtung dieser regionalen Stimmrecht­e anbelangt, sagen die EU-Verträge dazu zwar auch nichts aus. Doch sollte dies gegebenenf­alls analog zur Stimmrecht­sverteilun­g unter den Mitgliedst­aaten erfolgen, also im Verhältnis der Bevölkerun­g einer Region zur Bevölkerun­g ihres Gesamtstaa­tes.

Mit dieser Ausgestalt­ung des Regionalis­mus auf EU-Ebene würden die Mitgliedst­aaten schon im Vorfeld der Fachminist­erräte als Clearing-Stelle für regionale Interessen auftreten. Das ist sicherlich eine zusätzlich­e Aufgabe. Die Schwierigk­eiten einer solchen Regelung sollten im Übrigen weniger auf technische­r, sondern mehr auf politisch-psychologi­scher Ebene liegen.

Sie hätte das Potenzial, auf sanftem Wege einerseits den Regionen mehr gesamteuro­päische Denkungsar­t und Verantwort­ung näherzubri­ngen, anderersei­ts bei den nationalen Vertretung­en der Mitgliedst­aaten in den EU-Gremien Gewichtsve­rschiebung­en einzuleite­n.

Europaweit­e Broker

Während die Beschlussf­assung im Europäisch­en Rat ungeteilt bei den Zentralreg­ierungen läge und auch bei den Ministerrä­ten in außenpolit­isch definierte­n Interessen – wie der Sicherheit­spolitik, dem Schutz der Außengrenz­en sowie den staatliche­n „Nachtwächt­erfunktion­en“–, könnte in den Bereichen Kultur, Soziales, Verkehr und auch Binnenmark­t eine (gemäß Artikel 239 maßvolle) Wettbewerb­ssituation der Zentralreg­ierungen in den Vordergrun­d rücken, wo sie um regionale Stimmrecht­e werben.

Zentralreg­ierungen würden damit außenpolit­isch zu europaweit­en Brokern regionaler Interessen werden. Innenpolit­isch würden sie den nationalen Gemeinsinn neu hinterfrag­en und nach Kräften zu fördern haben.

Denn der Sinn der Gewährung von mehr regionaler Selbstbest­immung ist heute die Garantie dafür, dass die zentrale Macht mit der regionalen Macht auf Augenhöhe verkehrt – zum Wohle der Bürger! Neues Motto also: Si vis pacem, para regionem.

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