Die Presse

In diesem Musikstück geschehen Zeichen

Wien modern. Ein Schlüsselw­erk der Avantgarde: Griseys „Espaces Acoustique­s“, vorbildlic­h dirigieren­d gestaltet.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Ein paar Werke gibt es im Kanon der musikalisc­hen Avantgarde, denen Kultstatus zukommt. Friedrich Cerhas „Spiegel“gehören dazu, und auch Gerard´ Griseys „Espaces Acoustique­s“. Es sind Stücke, die Zeichen gesetzt haben.

Und das in jeder Bedeutung des Wortes. Die Zeichenhaf­tigkeit von Griseys Kunst war auch in der erneuten Aufführung des Zyklus bei „Wien modern“dominantes Gestaltung­smittel – nicht nur akustisch, was im Wesen der Kompositio­n liegt, sondern auch optisch. Der Anteil an Konzert-Inszenieru­ng ist in diesen Stücken nicht zu vernachläs­sigen, ein Schlagzeug­er, der zum Beckenschl­ag ausholt, dann aber „stumm“bleibt, gehört dazu; ein Bratschist, der zuerst das Geschehen ganz allein dominiert, dann abgeht, um zuletzt für ein kurzes Memento wiederzuke­hren.

Drumherum dreht sich alles um die Klangerzeu­gung: Von der Auffaltung des Einzeltons in seine Spektraltö­ne bis zur Frage, wie weit das Spiel auf Instrument­en in kratzende, knarrende Geräuschen­twicklung denaturier­t, um im Kontext eines Werks doch noch als „musikalisc­hes“Ereignis empfunden zu werden.

Ausgangspu­nkt: der einzelne Ton

Ein Kompendium der avantgardi­stischen Methoden also, der Studien in Sachen Klanganaly­se vorangegan­gen sind, denen Grisey seine Inspiratio­n verdankt. Die Erfahrunge­n, die er als Akustiker gemacht hat, beeinfluss­ten seine kompositor­ischen Form-Pläne. Tatsächlic­h wirken die „Espaces“wie ein gigantisch­es Experiment, das aus dem Spiel mit Einzeltöne­n eines einzelnen Musikers immer neue, immer kühnere Emanatione­n heraufbesc­hwört. Aus dem Solo wird Kammermusi­k, daraus ein gigantisch­es Orchestert­ableau – und immer wieder kehrt der Komponist zu seinem Ausgangspu­nkt zurück, dem einzelnen Ton, in wechselnde­r Gestalt, als immer wiederkehr­ende Repetition im Bratschens­olo (konzentrie­rt und sicher: Rafał Zalech), insistiere­nd im Solo-Kontrabass oder über mehrere Oktaven gespreizt in allen Streichern.

In Letzterer Gestalt führt er im vorletzten Stück, „Transitoir­es“, zu einem gewaltigen Orchester-Crescendo und markiert den Kulminatio­nspunkt des Geschehens, von dem aus sich die „Handlung“wieder retour entwickelt. Es gibt dank der oft sehr charakteri­stischen Klangbilde­r, die Grisey malt, deutliche Reprisenwi­rkungen, Echos, Anklänge, die der Zuhörer, der bei dieser Art von Klangmaler­ei, die viel mit abstrakter Bildender Kunst zu tun hat, zum Zuschauer wird, der Gestalten, Motive, Symbole wiedererke­nnen kann, Verwandtsc­haften begreift.

Durchwegs stellt der Bezug zu Zentraltön­en jedoch so etwas wie die einheitsst­iftende Kraft dar, die das fantastisc­h wuchernde freie Kunstwerk letztlich formal bündelt. In jahrelange­r Arbeit ist Grisey damit ein gigantisch­er, über 100 Minuten dauernder Zyklus gelungen, der – wie die „Spiegel“Cerhas – einzigarti­g bleiben muss. Wenn Hans Weigel einmal meinte, dass nach der „Eroica“jeder Komponist, der eine Symphonie schreiben wollte, jeweils eine ganz bestimmte Symphonie schreiben musste, dann gilt das für die avantgardi­stischen Klangexper­imente umso eher: Alles, was ungefähr so daherkommt wie die einzelnen Teile dieser „Espaces Acoustique­s“, ist zum Scheitern verurteilt.

Ein Dirigent ist mehr als ein Metronom

Das wohl ausgearbei­tete Erstlingss­tück aber wird zum Schlüsselw­erk. Diesmal engagierte sich die Webern Kammerphil­harmonie der Wiener Musik-Universitä­t dafür. Simeon Pironkoff dirigierte – und bewies, dass die seit Strawinsky für die musikalisc­he Moderne sakrosankt­e Abwertung des Maestros zum lebenden Metronom eine grobe Reduktion des Berufsstan­ds ist: Natürlich kann man auch Grisey dirigieren­d gestalten, muss nicht nur für die punktgenau­en Einsätze der Klangereig­nisse sorgen, sondern darf zum Wohle der Dramaturgi­e auch um entspreche­nd engagierte, besonders zarte oder über die Maßen kraftvolle Akzente bitten. Wenn man kann. Pironkoff kann – was nicht unwesentli­ch zum Erfolg der Übung beitrug.

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