Der Ahnherr der Linken und der Nationalisten
Ideologie. Ist Jean-Jacques Rousseau auch für den Zorn in der heutigen Zeit verantwortlich? Er hat die Welt jedenfalls in vielen Facetten mitgeprägt wie kaum ein Zweiter. Von seinem Widersacher Voltaire vielleicht einmal abgesehen.
Jan Fleischhauer, der „Spiegel“-Autor, schrieb in seinem 2009 erschienenen Buch „Unter Linken“: „Die meisten halten Karl Marx für den Ahnherrn der Linken, einige auch den Fabrikerben Friedrich Engels. Tatsächlich aber gebührt dieser Ehrentitel Jean-Jacques Rousseau.“Und Fleischhauer weiter: „Alles ist bei ihm schon angelegt: die Klage über den verderblichen Warencharakter der modernen Welt und ihren Wachstumsfetischismus, die sentimentale Sehnsucht nach dem einfachen Leben, die Verherrlichung des Gefühls anstelle des Intellekts, kurz, der ganze Miserabilismus, der in der zahlengesteuerten Welt des Kapitalismus die Wurzel allen Elends sieht.“
In seinem heuer erschienenen Buch, „Das Zeitalter des Zorns“, befasst sich nun der indisch-britische Schriftsteller Pankaj Mishra intensiv mit dem französischen Philosophen. Anders als der Untertitel „Eine Geschichte der Gegenwart“vermuten lässt, handelt es sich bei Mishras Werk vielmehr um eine Geschichte der Aufklärung, in de- ren Zentrum die Auseinandersetzung zwischen Jean-Jacques Rousseau und seinem ideologischen Widerpart Voltaire steht. Eine, die allerdings bis heute nachwirke.
Da der kosmopolitische, wenn man so will, „neoliberale“Voltaire, Bewunderer von Zar Peter dem Großen und dessen Reformen von oben, Hofphilosoph der Mächtigen seiner Zeit, den aufgeklärten Herrschern Friedrich II. von Preußen und Katharina II. von Russland. Dort der Außenseiter, der plebejische Rousseau, der gegen die (auch intellektuellen) Eliten an- und für die Herrschaft des Volkes eintritt.
Einfluss auf die deutschen Romantiker
Aber Rousseau, Vorreiter der Französischen Revolution, ist nicht nur der Ahnherr der Linken. Sondern auch der Nationalisten. Auch die deutschen Romantiker, die intellektuellen Wegbereiter des deutschen Nationalismus, hatten allesamt ihren Rousseau gelesen. „Rousseaus ideale Gesellschaft war Sparta, klein, streng, sich selbst genügend, leidenschaftlich patriotisch, trotzig nicht kosmopolitisch und nicht kommerziell“, schreibt Pankaj Mishra. Und Jean-Jacques Rousseau selbst schrieb: „Ein jeder Patriot ist hart gegen die Fremden. Die Hauptsache ist, dass man den Leuten gut ist, mit denen man lebt.“Und Soldat zu sein, so Rousseau, sollte für jeden Bürger eine Pflicht und für keinen ein Beruf sein.
Er unterstützte mit Verve auch die Polen, die in einem geteilten Land lebten und von den Russen bedroht waren, ihre nationale Eigenart zu bewahren. Gewissermaßen war das aber auch wieder eine Reaktion auf seinen Gegenspieler Voltaire, der die russische Zarin Katharina die Große unterstützte, weil er glaubte, sie wolle die anachronistischen Polen mit aufklärerischen Gedanken beglücken. Diese wollte in erster Linie jedoch ihren Machtbereich erweitern.
Jean-Jacques Rousseau hat aber auch die Pädagogik wesentlich beeinflusst, vor allem mit seinem Standardwerk „E´mile“. Sein Konzept war: Das Kind solle sich durch „nicht direktive Führung“, also mittels „trial and error“seine Fähigkeiten selbst aneignen. Der Erzieher bleibt dabei – scheinbar – im Hintergrund. Die Montessori-Pädagogik beruht in etwa auf diesem Muster. „Lasst ihn (den Zögling, Anm.) immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollständigere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man seinen Willen“, so Rousseau.
Hier zeigt sich allerdings auch eine Eigenschaft nicht weniger Linker bis zum heutigen Tag: die Doppelmoral. Denn Rousseau selbst, der große Pädagoge, hat seine eigenen fünf Kinder, die ihm seine Lebensgefährtin Therese geboren hat, stets gleich nach der Geburt im Waisenhaus abgegeben.
Seine eigene Mutter war wenige Tage nach seiner Geburt gestorben. Sein Vater verließ ihn, als er zehn Jahre alt war – dieser war in einen Raufhandel verwickelt und flüchtete, da ihm eine Gefängnisstrafe drohte. Der Jugendliche Jean-Jacques Rousseau ging dann recht bald auf Wanderschaft, lebte mal in der Schweiz, mal in Italien, mal in Frankreich und eignete sich sein Wissen großteils autodidaktisch an, machte sich auch einen Namen als Opernkomponist. Sein Durchbruch als Denker gelang ihm mit einem Aufsatz, mit dem er den Preis der Academie´ de Dijon gewann.
Der Kern seiner Philosophie war da schon angelegt. „Der Mensch ist frei geboren und liegt überall in Ketten“, hieß es dann in seinem „Du contrat social“. Der Mensch ist von Natur aus gut, nur die Umstände, der Prozess der „Vergesellschaftung“würden ihn zu einem egoistischen Unsympathler machen.
Gegner des Privateigentums
„Der Erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen: ,Dies ist mein‘, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.“Dies ist wahrscheinlich die wesentliche Sequenz seines Werkes, die ihn zum Vordenker der Linken gemacht hat.
Der große Ironiker Voltaire, sein Widersacher, reagierte auf Rousseaus Fortschrittsfeindlichkeit mit Spott: „Das Lesen Ihres Buches erweckt in einem das Bedürfnis, auf allen vieren herumzulaufen.“
Im Gegensatz zu Voltaire („Wir haben nie so getan, als wollten wir die Schuster und Diener aufklären“) und anderen maßgeblichen Philosophen der Aufklärung sah Rousseau die Demokratisierung jedoch nicht als exklusive Veranstaltung der aufstrebenden Bourgeoisie an, sondern er wollte die Mitbestimmung des gesamten Volkes. Er ist somit auch Wegbereiter der Demokratie, wie wir sie heute kennen.
Für Pankaj Mishra ist Rousseau allerdings auch der Spiritus Rector für die Zornigen von heute – von den IS-Anhängern über radikale Hindu-Nationalisten bis zu den Trump-Fans. Rousseau stehe für die innere Erfahrung der Moderne: „den entwurzelten Außenseiter, der in der Metropole des Kommerzes nach einem Platz für sich sucht und mit komplexen Gefühlen wie Neid, Faszination, Ekel und Zurückweisung zu kämpfen hat“. Oder in aller Kürze: da die Elite (Voltaire), dort das Volk (Rousseau).
Jean-Jacques Rousseau hat die Welt jedenfalls geprägt wie kaum ein Zweiter. Revolutionäre und Demokraten, Sozialisten und Nationalisten, ja selbst Pädagogen können sich auf den widerspenstigen Genfer berufen. Sofern ihnen das bewusst ist.