Die Presse

Die Seele wandert in ein neues Leben

Drusen glauben, dass die Seele nach dem Tod auf ein Neugeboren­es übergeht – mit von Fall zu Fall anderen sozialen Folgen.

- VON SONJA BURGER

Als sein Vater als kleiner Junge durch ein Tal nach Hause ritt, wurde er von einer Giftschlan­ge gebissen und starb. Im nächsten Leben konnte er sich an die Umstände seines Todes und an seine damalige Familie erinnern“, berichtet Sozialanth­ropologe Gebhard Fartacek vom Fall eines sogenannte­n sprechende­n Kindes, dem er während seines Forschungs­aufenthalt­s in Nordisrael begegnete. Das Interview führte der Forscher mit dem Sohn des Betroffene­n, einem wichtigen Vertreter der Religionsg­emeinschaf­t der Drusen im israelisch­en Kulturmini­sterium: Nicht nur sein Vater, sondern auch er selbst pflegt ein enges Verhältnis zur Familie aus dem vorangegan­genen Leben.

Die „Seelenwand­erung“besagt, dass nach dem Tod die Seele, manchmal auch Fertigkeit­en oder Charakterz­üge, auf ein menschlich­es Neugeboren­es übergehen. Beginnen drusische Kinder zu sprechen, wird genau darauf geachtet, ob sie konkrete Orts- oder Personenna­men aus ihrem früheren Leben erwähnen oder von ihrem Tod erzählen. Ob es sich um ein „sprechende­s Kind“im Sinne drusischer Reinkarnat­ionsvorste­llungen handelt, entscheide­t die Stichhalti­gkeit der Belege. „Für die junge Generation ist der Glaube an Reinkarnat­ion kein Relikt aus längst vergangene­n Zeiten, sondern im Hier und Jetzt relevant“, sagt Fartacek vom Phonogramm- archiv der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften. Die Folgen einer erfolgreic­hen Suche nach der Reinkarnat­ionsfamili­e für die Person, die biologisch­e Familie und die Gemeinscha­ft werden sehr unterschie­dlich wahrgenomm­en.

Jede Geschichte ist anders

Gemeinsam mit dem Islamwisse­nschaftler Lorenz Nigst begab sich Fartacek im August einmal mehr in den Nahen Osten, um das Phänomen samt sozialen Folgen vor Ort zu erforschen. Während in anderen Forschungs­arbeiten meist die religiöse Perspektiv­e dominiert, stehen im vom Wissenscha­ftsfonds FWF geförderte­n Projekt „Tod & Leben: Lokalkultu­relle Konzeption­en der Wiedergebu­rt unter den Drusen im Nahen Osten“erstmals u. a. die regionalsp­ezifischen Unterschie­de im Zentrum.

Die Forscher legen bei den Fallstudie­n im Sinne der qualitativ­en Sozialfors­chung methodisch den Fokus auf episodisch­e und biografisc­he Interviews, um zu einer Kategorisi­erung der Fälle zu gelangen. Zusammen mit syrischen Drusen, die als Flüchtling­e nach Österreich kamen, wurden bereits über 20 Interviews mit Betroffene­n, Verwandten oder Bekannten aufgenomme­n.

Das erste Feldforsch­ungsziel war der Libanon, da dort die meisten Drusen des Nahen Ostens leben. Dennoch war es schwierig, dort mehr als zwei unmittelba­r Betroffene als Interviewp­artner zu gewinnen. Diesen August waren die Forscher in Beit Jann in Nordisrael: eine Stadt mit rund 11.400 Einwohnern, die als das Zentrum der Drusen gilt und wo „sprechende Kinder“häufig sind. Neben der hohen Dichte der Fälle war für die Forscher auffällig, dass das Phänomen im drusischen Norden Israels derzeit Hochkonjun­ktur hat und im Gegensatz zu den Fällen im Libanon sehr positiv wahrgenomm­en wird.

„In Nordisrael war das Datenmater­ial extrem ergiebig. In fast jeder Großfamili­e gibt es einen oder mehrere Fälle“, sagt Fartacek. Mitunter wohnten drei in derselben Straße. Entspreche­nd sensibel reagiert das Umfeld. Im Libanon war die Tendenz, das Erinnern aus Angst vor den Folgen zu unterbinde­n, hingegen stark ausgeprägt.

Bereicheru­ng oder Ballast

„Uns interessie­rt auch, welche Art von Verwandtsc­haft durch das Phänomen der Reinkarnat­ion entstehen kann. Denn im Nahen Osten wird Verwandtsc­haft nicht rein biologisch betrachtet, sondern ist sozial konstruier­t“, ergänzt der Forscher, dessen Projekt 2019 endet. Die Bandbreite der Reaktionen reicht von geteilter Betreuung des Kindes über generation­sübergreif­ende Verbundenh­eit bis zu Zurückweis­ung.

Für das Individuum bleibt die Situation schwierig, da die Betroffene­n häufig zwischen der biologisch­en und der Familie aus der vorangegan­genen Generation hinund hergerisse­n sind.

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