Wie schmeckt Moral?
An einem warmen Spätvormittag im Herbst schlendert ein Pärchen mit Kinderwagen und Kleinkind an der Hand über den gut besuchten Naschmarkt. Immer wieder bleibt man stehen, nimmt dankend eine Olive an, probiert ein wenig Schafkäse. Vertraut nickt man den Biostandlern zu, plaudert, kauft ein Stück Käse aus Vorarlberg. Die Wahl für die Tomaten trifft der kleine Leon; was ihm gefällt, wird gekauft.
Stunden später. Die rotierenden Lichter der Müllwagen blinken in der einsetzenden Dämmerung. Zielgerichtet schwärmen Mistkübler über den Platz. Vor ihnen eine Frau, auf den Spitzen ihrer leicht abgewetzten Halbschuhe stehend, versucht sie im tiefen Müllcontainer Brauchbares zu entdecken. Sie streicht sich einige Haare aus dem Gesicht, die ein lose gebundenes Kopftuch mit Blumenmuster zusammenhalten. Zügig geht sie bei den Standlern vorbei, klaubt halb leere Holz- und Kartonkisten auseinander, findet einen Salatkopf oder ein paar Birnen, prüft sie, steckt sie in ihre Plastiktasche . . .
In Österreich ernähren sich Menschen in völlig unterschiedlichen Welten: Die Welt der Ärmeren ist eine Such-, die Welt der Reicheren eine Selektionsbewegung. Sichtbar macht das ein Einkauf im Super- oder Sozialmarkt. Die eine Welt: hell, voll ausgeleuchtet, sauber, mit atemberaubender Warenvielfalt, uniformiertem Personal, ruhig, unterbrochen von Rufen nach einer „Zweiten Kassa, bitte“. Die andere Welt: schummrig, ein wenig schmuddelig, erfüllt vom mehrsprachigen Stimmengewirr. Secondhandregale präsentieren ein einseitiges wie übersichtliches Warenangebot. Auf dem Boden stehen größere Mengen an nicht mehr lang haltbarem Obst in lieblos aufeinandergestapelten Kisten. Geschleppt, geschlichtet und kassiert wird im Sozialmarkt von Langzeitarbeitslosen, die durch diesen Job wieder ins Berufsleben finden sollen.
Wo gibt es günstige Angebote? Wann kann ich wo was einkaufen – und wie komme ich dorthin? Meist haben Sozialmärkte stark eingeschränkte Öffnungszeiten, es braucht eine Berechtigung, um dort einzukaufen. Da solche „Armenangebote“auf günstige Mietpreise angewiesen sind, wechseln sie häufiger die Räumlichkeiten. Kunden nehmen längere Wege in Kauf, stellen sich an, um zuletzt zu erfahren, dass das Angebot bereits aufgebraucht ist. Ältere Menschen kennen das aus der Nachkriegszeit oder von Besuchen in Ländern des ehemaligen Ostblocks. Gabriele Drack-Mayer vom Ilse-Arlt-Institut St. Pölten nennt diese persönlichen Wege der Nahrungsmittelorganisation „Ernährungslandschaften“: „Man kann sich das als Wüstenlandschaft vorstellen: Es gibt stabilere Wege, fixe Versorgungspunkte und Dünen, die sich immer entziehen, weil ich etwa nicht zur Zielgruppe des Versorgungsangebots gehöre.“
(First) veranstaltet am 20. und 21. November eine Tagung zum Thema Ernährungsungleichheit und Migration: in der NÖ Landesbibliothek St. Pölten, der Eintritt ist frei. Näheres unter first-research.ac.at.
studierte Politik- und Sozialwissenschaften an der Universität Wien und an der Freien Universität Berlin. Dr. phil. Arbeitet als Kommunikationsberaterin und Sozialwissenschaftlerin in St. Pölten. Bücher: „Männerort Gasthaus?“(Campus Verlag). schaft zu betrachten“, fasst der Agrarhistoriker Ulrich Schwarz zusammen.
Betreten wir die grelle Welt des Supermarkts mit einem Angebot von 30.000 Waren und vielfältigen Informationen, geht es eher ums Selektieren. Wer durch diese Ernährungslandschaft trabt, braucht Scheuklappen und eine sozialkulturelle Strategie der Orientierung. Bin ich Veganerin, reduziert sich das Warenangebot gleich auf zwei bis drei Regale. Ernährungsstile reduzieren die komplexen, einander teilweise widersprechenden wissenschaftlichen Gebote gesunder Ernährung. Etwa als Fruktarier, roh-vegan oder als Clean Eater (das heißt, essen, wie es früher Oma gemacht hat, aus dem Garten, ohne Zusatzstoffe) zu leben bringt Klarheit und soziale Distanz. Wer „die gemeinsame Tafel verlässt“und aus welchen Gründen auch immer eine Ernährung praktiziert, die sich deutlich von der angestammten Gemeinschaft abhebt, geht aus dem alten Umfeld heraus, so die deutsche Essensoziologin Eva Barlösius.
Marken- und Bioprodukte oder Herkunftskriterien sind eine weitere Essensexklusionsstrategie. Viele Menschen essen zwar „Weltmarktstrukturküche“(Rolf Schwendter), von der Avocado bis zur Garnele, legen aber großen Wert auf Regionalität. „Bio“wirbt mit Werbebildern einer Landwirtschaft, in der Männer noch Heu sensen und Frauen, auf dem Schemel hockend, Kühe melken; versprochen werden geschmackliche Heimat und ein Zurück zum Ursprung.
Unser Essverhalten ist voller Widersprüche. Manche meinen: gestört. Die grausamen Absurditäten des globalen Ernährungssystems motivieren Mülltaucher (Dumpster) zu ihren nächtlichen Essensfeldzügen. Nicht aus Not graben sie Essen aus dem Müll, sondern aus überzeugter Notwendigkeit. Viele studieren, leben gemeinsam in WGs, und der besondere Kick liegt in der nicht ganz legalen Nahrungsmittelbeschaffung. Wer dabei weder zu Fleisch- noch Milchprodukten greift, ist Freeganer.
Einfach essen geht nicht; man muss rechtfertigen, begründen, was man isst. „Woran erkennt man auf einer Party einen Veganer? Sie erzählt es allen.“Egal, ob im Dienste einer politischen Überzeugung, Gesundheit oder Religion: Wichtig ist das alltägliche materielle Bekenntnis zu einer bestimmten Lebens- und Geisteshaltung. Individuelle „Genussmoralität“nennt dies Margot Berghaus, als Antwort auf das nahezu völlige Verschwinden allgemein verbindlicher Essensreglementierungen. „Ernährung wird immer mehr zum Religionsersatz. Fast streitet man: Veganer gegen Baleo (,Steinzeit‘-Ernährung), TCM gegen Makrobiotik. Früher sagte man den Leuten: Essen Sie ein bisschen mehr von dem, weniger von dem. Heute höre ich eine Viertelstunde lang zu und sag: Und jetzt essen wir wieder normal. Was ist normal? Ich glaube, man macht es sich absichtlich schwer. Man braucht eine Vorgabe. Man will sich beschränken.“
Der moralisierende Habitus der Ernährungswissenschaft verstellt den Blick auf das Ausmaß an Möglichkeiten, die jemandem zur Verfügung stehen. „Meine Kundschaft ist die Mittelschicht“, so die Gründerin der Kochwerkstatt Flotte Lotte, Nicole Seiler. „Andere haben nicht die Zeit, das Geld und das Wissen, sind froh, wenn etwas Warmes auf dem Tisch steht.“Hält sie Vorträge an Schulen, sagen manche Eltern zur Lehrerin: „Schon wieder ihr mit eurer Scheiß-Ernährung.“Der Balanceakt zwischen Tunsollen und Leistenkönnen kann wütend machen.
Rückzug aus den Ernährungspraktiken der „Leitgesellschaft“kann eine Alternative sein. Im Vergleich zu Altösterreichern allerdings haben etwa türkische Migranten ein nachgewiesen höheres Risiko an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes. Ein Grund dafür mag in der Fusion von Ernährungsgewohnheiten liegen. „Die klassische türkische Küche ist nicht fett. Bulgur, Tomatensauce, Fisch oder Fleisch dazu. In Österreich kommt dann zusätzlich überall Butter rein.“Seiler bietet im Auftrag der Caritas Kochkurse für türkische Frauen an. „Zuerst gab es die Skepsis wegen des Schweinefleischs. Ich habe fertig abgepacktes Rindfleisch mitgebracht. Dann kam die Frage nach halal, ich bejahte, aber so richtig vertraut wurde mir nicht. Das hat mich grantig gemacht. Ich habe den Ein-