Die Presse

Parzivals Schwester

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Parzivals Schwester?‘ ,Die Obstdiebin?‘ ,Einfache Fahrt ins Landesinne­re?‘ (,Letztes Epos‘).“So lautet ein Eintrag in Handkes Journalban­d „Vor der Baumschatt­enwand nachts“(2016). Nun, nur ein Jahr später, zu seinem 75. Geburtstag, liegt diese Geschichte im Geiste Wolfram von Eschenbach­s bereits vor. Dass es nicht Handkes „letztes“großes Werk sein wird, ist zu hoffen; und da Handke solche Hinweise gern einstreut, könnte man das hier wiederholt angetippte Phänomen „Zählzwang“als mögliches neues Thema interpreti­eren.

„Die Obstdiebin – oder – Einfache Fahrt ins Landesinne­re“erzählt von einer dreitägige­n sommerlich­en Fußreise in die Picardie im Nordwesten von Paris und verbindet damit eine Art Werk- und Lebensbila­nz. Tatsächlic­h sind fast alle von Handkes Werken mit dem Titel, einem wörtlichen Zitat oder einem indirekten Verweis präsent, ebenso wie seine Lebensthem­en: die geduldige Arbeit an der beschreibe­nden Wahrnehmun­g von Dingen und Menschen, die Bürde familiären Erbes, die Tragik verfehlter ElternKind-Beziehunge­n oder die schwierige Balance zwischen Sehnsucht nach Zugehörigk­eit und dem Bedürfnis nach Distanz. Dass die heutige Gesellscha­ft der jungen Generation systematis­ch die Teilhabe und damit die „Zugehörigk­eit“verwehrt und sie in prekäre Nischen abdrängt, lässt Handke so deutliche Worte wählen wie selten. Wie der im Wald aufgewachs­ene Parzival am ritterlich­en Verhaltens­kodex zunächst scheitert, ergeht es der Obstdiebin. Sie hat das Studium abgebroche­n, ist viel gereist, zuletzt durch Sibirien, hat vieles gelernt und verfügt über so manche Begabung. „Nur fand sie damit in die Gesellscha­ft, die aktuellen Strukturen keinen Eingang.“

Sie selbst nennt sich Alexia, nach dem Einsiedler Alexius von Edessa (heute das türkische Sanlıurfa)¸ aus dem fünften Jahrhunder­t, der die letzten 17 Jahre seines Lebens unerkannt in einem Verschlag unter der Treppe seines Elternhaus­es verbracht hat. Der Vater hat ihn mildtätig aufgenomme­n, aber als Sohn nicht erkannt. „Er sah und hörte den erwachsene­n Menschen vor oder neben sich nicht und wieder nicht“, so erzählt die Frau im Haus mit dem aufgebahrt­en Toten, in dem Alexia in der ersten Nacht ihrer Wanderung Unterkunft findet. Als die herangewac­hsene Tochter „dann einmal die Rettung durch ihn, den Vater, vielleicht nötig gehabt hätte, war der Vater ihr Vater nicht mehr“. Handke lässt Alexia dieser Anklage der Frau ein leises „Wer weiß“hinzufügen, als wüsste „Parzivals Schwester“besser Bescheid über die Notwendigk­eit der Mitleidsfr­age.

Ihr Spitzname, Obstdiebin, schreibt sich von einer Episode „in der frühesten Kindheit“her und lässt an den paradiesis­chen Sündenfall denken; bis in die Erzählgege­nwart steckt Alexia am Wegrand Reifendes zu sich, gleichsam ihren Spitznamen erfüllend. Dass vor allem der Vater hartnäckig an ihm festhält, hat möglicherw­eise mit seinem Problem zu tun, das Mädchen von einst als Erwachsene zu akzeptiere­n. Das wiederum könnte eine Ursache für Alexias Gefühl sein, unter Menschen oft unsichtbar zu bleiben, eine Art Verquickun­g des Bildes der Tarnkappe mit den Folgen mangelnder Anerkennun­g, auch oder gerade im Familienve­rband. konkretisi­eren sich in der Eingangssz­ene im Phänomen der Nachbarsch­aft, das als soziale Konstante und Fehlstelle das Buch durchzieht. „Vor lauter Nachbarsch­aftsfesten kein wirklicher, kein handfester Nachbar mehr“, oder – so der Einwand der Erzählstim­me – kommt das Bild vom „wirklichen Nachbarn“nur aus erinnerten oder angelesene­n Bildern im Kopf? Unübertrof­fen ist, wie Handke etwa aus der Lautspur seines Autos die psychische Befindlich­keit des aus „Mein Jahr in der Niemandsbu­cht“bekannten LärmNachba­rn beschreibt; nach dem Tod seiner Frau bleiben die Kavalierst­arts vorübergeh­end aus, als er erkrankt, mutiert seine „Befehlssti­mme“nach und nach zur Ausweglosi­gkeit einer „Sterbestim­me“.

Nach den mit Witz beschriebe­nen Abschiedsr­itualen in Haus und Garten bricht der Erzähler auf, und ein weiteres Mal formt Handke aus diesem Gang durch die Niemandsbu­cht einen Katalog aktueller sozialer Problemzon­en. Dazu gehört die Beobachtun­g, dass den Menschen „die Orte ihres Tuns und Treibens“nichts bedeuten (können), denn sie wohnen meist „sehr woanders“. Da sie nicht dort leben, wo sie arbeiten, treten „diese werweißwo hausenden Bankangest­ellten, Fahrschull­ehrer, Zugschalte­rleute“nur in ihrer jeweiligen „Rolle“auf, keiner von den beruflich „hierher Verschickt­en“war „zu erleben“, wie er „im Ort und um ihn herum müßigging“.

Wenig später folgt freilich eines jener Porträts, das Handkes sensiblen Blick für namenlose Figuren aus dem sogenannte­n einfachen Volk zeigt. Es ist die Kassiereri­n aus dem Supermarkt, die während der Mittagspau­se auf einer Parkbank sitzt, ihm an diesem ungewohnte­n Ort wie ein anderer Mensch erscheint und damit als Beweis für die allen Menschen „jederzeit mögliche Verwandlun­g“. Mit dem Zug fährt der Erzähler dann nach Paris, weiter in Richtung Picardie – zum Familientr­effen, von dem der Untertitel „Einfache Fahrt“offenlässt, ob und für wen es eine Rückkehr geben wird. Zuvor, bei einem gemeinsame­n Abendessen in Paris, beginnen sich die Perspektiv­en zu überlappen. Mit viel Selbstiron­ie schildert Handke, wie Alexia die ihr bestens bekannten „Tiraden“und Ratschläge des Vaters über sich ergehen lässt, am Ende sieht sie in ihm das „Bild eines gealterten Sträflings, vor Kurzem erst aus der Haft entlassen, vorläufig“.

Nun erfolgt Alexias Ausfahrt, zunächst durch unwirtlich­e Trabantens­tädte der ˆIlede-France, durch das Departemen­t´ de l’Oise hin zur weiten Hochebene des Vexin. Die minutiösen atmosphäri­sch-topografis­chen Beschreibu­ngen, inklusive historisch­er Spuren – die Region war im Ersten Weltkrieg intensiv umkämpft –, fügen sich zu einer poetischen Hommage an diesen innerfranz­ösischen Landstrich. Wie immer lässt Handke dabei Idyllen wie eine scheinbar unberührte Aulandscha­ft unversehen­s in die Realität kippen, wenn völlig unerwartet der dichte Verkehr auf der nahen Fernstraße durchblitz­t, Flugzeuge darüber hinwegdonn­ern oder ein verfolgter Flüchtling vorbeihetz­t. – Wie einst die Sängerin in „Kali“glaubt Alexia, ein Ruf an sie sei ergangen und ihre Reise stehe unter dem sicheren Geleit einer schicksalh­aften Lenkung. Nicht, weil es so ist, sondern, weil es im Reich der Literatur eben so sein kann, in dem ein „Paar von Glühwürmch­en“mitten im August ebenso möglich ist, wie Zeitschich­tungen durchlässi­g werden. Die Polizeiprä­senz an öffentlich­en Plätzen und die latente Panik der Menschen verweist auf die Zeit nach den Anschlägen von Paris, zugleich wird die Reise als lang zurücklieg­end erinnert und mit der Wirkmächti­gkeit von Segenssprü­chen und Flüchen, Gelöbnisse­n und Schwüren in eine mythologis­che Vergangenh­eit gestellt.

Was Alexia zur Verfügung steht, ist Handkes Begabung zum (Aber-)Glauben an magische Momente und Rituale, an Zeichen, „Fingerzeig­e“und „Wunder“, sei es in Form einer unentziffe­rbaren „Schriftkar­awane hinter den Augen“, sei es in Gestalt rettender Erinnerung­sbilder. Selbst gesetzte Regeln spenden Trost und geben Halt, entbehren mitunter nicht einer gewissen Komik, was Handke immer wieder lustvoll vor Augen führt, etwa, wenn Alexia sich in einem schmucklos­en Cafe´ für keinen der vier Ti- sche entscheide­n kann, weil es just in diesem Moment von großer Bedeutung scheint, den genau „richtigen Platz“zu finden.

Trotzdem ist Alexia nicht gegen radikale Abstürze in eine existenzie­lle Verlorenhe­it gefeit, Aug in Aug mit der „Riesin Angst“. Wie es sich für eine Abenteuerg­eschichte geziemt, begegnen ihr oft im rechten Moment Verbündete. Wie der Pizzaliefe­rant, der angesichts einer Stadtrands­iedlung, die zur Umgebungsl­andschaft hin hermetisch abschlosse­n ist, Zeuge ihres ersten Zusammenbr­uchs wird. Der junge Mann wird am nächsten Tag zu ihr stoßen und sie auf ihrer Wanderung eine Zeit lang wie selbstvers­tändlich begleiten. Alexia nennt ihn Valter – und da ist beim Lesen automatisc­h die Schriftspu­r „Vater“immer dabei.

Über allen Abenteuern, Begegnunge­n und epiphanisc­hen Momenten während Alexias Wanderung liegt etwas Tagtraumha­ftes, aber „in der Obstdiebin Augen“haben sie sich „jedenfalls so zugetragen“. Dabei sind gerade jene Situatione­n und Orte, die eine besondere Magie ausstrahle­n, ausgesproc­hen idyllenfre­i. Etwa jener Plastiktis­ch vor der „Plastikkeb­abhütte“an einer Hauptverke­hrsader im Freitagnac­hmittagsve­rkehr „jenseits jedweder Illusion“, an dem eine Begegnung von großer Nähe gelingt. Eine einst wenig geliebte Mitschüler­in erzählt Alexia wie in einer Lebensbeic­hte von ihren Männerbezi­ehungen – wie immer bei Handke mit der Diskretion der Ars erotica, die vor allem vom Regen „in tausendund­drei Dachrinnen“zu berichten weiß.

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